© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Endpunkt eines Epochenwechsels
Wiedervereinigung: Die gesamtdeutschen Wahlen vom 2. Dezember 1990
Karl Feldmeyer

Am 2. Dezember jährt sich die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl zum zwanzigsten Mal. Sie bildete den politischen  Abschluß eines Jahres, das nicht nur den Deutschen die staatliche Einheit und Ost wie West das Ende des Kalten Krieges brachte, sondern den Schlußpunkt hinter eine Epoche setzte. Das 20. Jahrhundert war damit politisch abgeschlossen. So eng wie in diesem Jahr 1990 lagen Ereignisse von säkularer Bedeutung in Europa seit dem Wiener Kongreß und Napoleons Ende 1815 nicht mehr beisammen.

 Als Ouvertüre dieses an Dramatik unvergleichbaren Jahres 1990 war am 9. November 1989 mit der Öffnung der Berliner  Mauer das Ende der DDR eingeleitet worden. Am 18. März 1990 folgte die erste und einzige freie Wahl der DDR-Volkskammer; drei Monate darauf die Währungsunion durch die Einführung der D-Mark in der DDR; am 12. September 1990 unterzeichneten die Bundesrepublik, die DDR und die vier Siegermächte den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der dem wieder vereinten Deutschland die volle Souveränität und gesicherte Grenzen gab. Am 29. September trat der Einigungsvertrag zwischen beiden deutschen Staaten in Kraft und am 3. Oktober folgte schließlich der feierliche Akt der Wiedervereinigung, mit dem die DDR zu bestehen aufhörte.

Im Bewußtsein der  Deutschen ist er der Tag, an dem die Einheit vollzogen wurde und der alle anderen Daten überlagerte. Das ist emotional nur zu verständlich, wird aber der politischen Wirklichkeit nicht ganz gerecht. Regelten alle die genannten Termine Probleme, die aus der Vergangenheit stammten, so nahm der wieder entstandene gesamtdeutsche Staat mit der Bundestagswahl bereits Fahrt in seine Zukunft auf.

Die Würfel, die an diesem Tag fielen, sicherten Bundeskanzler Kohl weitere acht Jahre seiner 16jährigen Kanzlerschaft. Das Ergebnis dieser Wahl war keine Überraschung. Es bestätigte im Gegenteil vorangegangene Umfragen und brachte für CDU/CSU mit 43,8 Prozent  ein Ergebnis, das zusammen mit den stolzen 11 Prozent für die FDP eine satte Mehrheit ergab. Die SPD, die mit Oskar Lafontaine einen bekennenden Gegner der Wiedervereinigung zu ihrem Kanzlerkandidaten gemacht hatte – statt ihr einstiges Idol Willy Brandt („Nun wächst zusammen, was zusammengehört“) noch mal zu reaktivieren –, mußte sich mit 33,5 Prozent geschlagen geben. Die ursprünglich in der Union verbreitete Befürchtung, mit den einstmals sozialdemokratischen Hochburgen in Sachsen und anderen Regionen Mitteldeutschlands werde sie Bundestagswahlen von nun an verlieren, hatte sich schon bei der Volkskammerwahl am 18. März als unbegründet erwiesen.

Was die Wahl damals prägte, waren nicht glattgeschliffene unverbindliche programmatische Aussagen der Parteien, sondern das Streben nach Wiedervereinigung und die Tatsache, daß Helmut Kohl es war, der sie – nachdem die Würfel gefallen waren – vollzogen hatte. Damals waren die Unterschiede zwischen den Deutschen in der  alten Bundesrepublik und denen der einstigen DDR noch viel stärker ausgeprägt als heute. Der  gemeinsame Nenner, den die Mehrheit in West wie Ost für die Entscheidung zwischen den Parteien hatte, war aber die Wiedervereinigung. Deshalb macht es im nachhinein keinen Sinn, die Wahl vom 2. Dezember isoliert zu betrachten. Sie war eingebettet in diesen  faszinierenden Vorgang des plötzlichen Verschwindens einer Zwangsherrschaft, von deren Endgültigkeit vor allem die  westdeutsche politische Klasse fast geschlossen überzeugt war. Für die Deutschen – insbesondere aber für die in der DDR – ging es deshalb nicht um Parteien, nicht um Wahlen, nicht um Programme. Das einzige, was sie interessierte, war der Wunsch nach der Wiedergewinnung der Einheit der deutschen Nation.

Der Mann aber, der dafür in den Augen der Deutschen stand, war Helmut Kohl. Wer ihn, wie der Autor, bei seinen  Reisen von Dresden (19. Dezember 1989) bis nach Leipzig (15. März 1990) begleitete, kann die erschütternde Hingabe nie vergessen, mit der sich damals Hunderttausende Kohl in geradezu kindlicher Einfalt anvertrauten. Für sie war er kein Politiker, sondern der Heiland, der Erlöser. Handgemalte Schilder mit Texten wie „Helmut Kohl, zeige uns den richtigen Weg,  wir wollen Dir folgen“ oder „Helmut Kohl, Du bist die Hoffnung für Millionen. Wir wollen in einem Deutschland wohnen. Wir haben lange genug geschmachtet. Einheit jetzt!“, dazu das Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen und der von Hunderttausenden unermüdlich skandierte Ruf „Deutschland einig Vaterland!“ sagten alles über ihre Befindlichkeit und darüber, was sie wollten und weshalb Kohl für die große Mehrheit in der untergegangenen DDR damals zum Idol geworden war.

Daß dies ein Stück weit Selbsttäuschung war, weil für Kohl – so wie für seine Vorgänger und Nachfolger – nicht die Nation, sondern „Europa“ das höchste aller Güter ist, wurde den meisten erst später bewußt. Es trug dazu bei, daß das nationale Hochgefühl, daß das Jahr 1990 für die Deutschen zum glücklichsten seit Menschengedenken machte, keinen Bestand hatte – ebensowenig wie die Zustimmung der Wähler von damals zur  CDU.

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