© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Der Flaneur
Augenblick von oben
Josef Gottfried

Über Kassel auf dem Herkules, über Hagen auf dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal, über Dresden auf der Ockerwitzer Höhe, auch bei einigen Autobahnabschnitten, auf stillgelegten industriellen Getreidemühlen oder einfach nur in den Cafés auf irgendwelchen Fernsehtürmen. Dort kann ich des Nachts auf all diese blinkenden Lichter der Stadt blicken.

Eben rühre ich noch ein Stück Zucker in den Café oder lese eine SMS, dann wende ich den Blick und schon sehe ich all diese erleuchteten Fenster, hinter denen – weiß Gott – so viele Geschichten, soviel Arbeit, Innovation, vielleicht auch Liebe stecken. Die Laternen, die Industrie, den Strom und die dunkleren Flecken, wo sich Wald und Acker in die Stadt einpassen. Dunkel nimmt der Fluß seinen Lauf. Und selbst wenn er begradigt wurde, scheint er ruhig zu bleiben, sich nicht zu stören, denn er war schon vorher da und hat die Gewißheit, daß er nachher auch noch das Leben von der Quelle zur See transportiert.

„Vielleicht schaut einer rauf und ahnt, daß er so sehr Teil und so sehr Ganzes ist.“

Auf der Höhe kann ich den Blick wenden – vom leisen Klimpern meines rührenden Löffels und dem Duft des schwarzen Kaffees hin zum stampfenden Poltern, rauschenden Fahren und wimmelnden Treiben, Hoffen, Planen, Schaffen – hinter all diesen kleinen Lichtern. Der Blick zurück, auf das Handy, auf den halb verzehrten Kuchen, die Krümel neben dem Teller und die leeren Zuckertütchen ist immer ein wenig schwerer. Nur ein ganz klein wenig schwerer freilich, denn ich muß den Blick wieder schärfen, mein Nächstes fokussieren. Der Blick in die Ferne entspannt das Auge. Will ich aber die hingekritzelte Rechnung entziffern, strengt das Auge sich an.

Irgendwo im Wimmeln schaut grad vielleicht einer rauf, zum Fernsehturm, zum Herkules oder zum Kaiser Wilhelm. Für eine Sekunde vielleicht. Vielleicht ahnt er, daß er – wie ich hier oben – so sehr Teil und so sehr Ganzes ist, wie das Treiben, Hoffen, Planen, Schaffen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen