© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Abmachungen zur Migration
Der Sozialhistoriker Christoph Rass interpretiert seine ganz eigenen „Bedingungskonstellationen“
Lydia Conrad

Im Zusammenhang mit der von Thilo Sarrazin ausgelösten Debatte ist nun endlich auch ins öffentliche Bewußtsein gedrungen, daß es hierzulande eine florierende Migrationsindustrie gibt, welche erhebliche Gewinne aus der Zuwanderung zieht, während die Kosten der Allgemeinheit aufgebürdet werden.

Andere bzw. indirekte Migrationsgewinnler haben es hingegen geschafft, noch überwiegend im Dunklen zu bleiben. So beispielsweise die Migrationsforscher, deren Vermehrungsdynamik sich mittlerweile der der Genderforschung anzunähern scheint, was natürlich auch zu einer verstärkten Mittelzuweisung führt. Das wäre indes noch erträglich oder gar begrüßenswert, wenn diese Wissenschaftlerspezies ihren Blick vorrangig auf die materiellen und immateriellen Kosten sowie die konkreten gesellschaftlichen Folgen der Migration richten würden. Doch weit gefehlt – man kann Migrationsforschung heutzutage offenbar auch sehr gut betreiben, ohne eines dieser Problemfelder auf nennenswerte Weise zu tangieren.

Ein prägnantes Beispiel hierfür ist das sperrige Werk des Aachener Wirtschafts- und Sozialhistorikers Christoph Rass, das jetzt im Schöningh-Verlag Paderborn erschien und den Titel „Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt“ trägt. Wie bereits der Untertitel verrät, analysiert Rass das System der bilateralen Wanderungsverträge in Europa, wozu er übrigens auch Marokko, Tunesien und Algerien sowie die komplette Türkei zählt. Wer freilich hofft, dieser komparativen Langzeitstudie, welche den Zeitraum vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum allgemeinen Anwerbestopp von 1973/74 behandelt, etwas wirklich Relevantes über Migrationsbewegungen entnehmen zu können, befindet sich weitestgehend auf dem Holzweg.

Der RWTH-Privatdozent konzentriert sich vorrangig auf die Untersuchung des Verlaufes der Migrationsprozesse; darüber hinaus gilt sein besonderes Interesse den involvierten Institutionen. Das heißt im Klartext, er schreibt vielfach eher Bürokratiegeschichte als Migrationsgeschichte. Und das gibt er am Schluß seiner Arbeit auch ganz offen zu: „Ihr institutionengeschichtlicher Ansatz blendet die sozialhistorische Dimension, die konkreten Ausprägungen und Realitäten der Arbeitsmigration im Europa des 20. Jahrhunderts weitgehend aus. Zugunsten der Langzeitbeobachtung des Gesamtsystems verzichtet sie auf eine Detailschärfe, die permanent die Distanz zwischen der institutionellen Norm und ihrer realen Ausgestaltung auslotet.“

Allerdings meint Rass damit nicht etwa die in der Bundesrepublik und anderen europäischen Aufnahmeländern zu beobachtende Differenz zwischen den tatsächlichen Migrationsprozessen und dem Idealbild, das sich Bürokraten, Politiker und gutmenschliche Propagandisten hiervon machten und noch immer machen. Nein, ihn wurmt vielmehr, daß seine Zeit es nicht hergab, die „Deformation des Migrationssystems durch das ‘Dritte Reich’“ näher zu untersuchen. Ebenso hätte der Migrationsforscher seinen Lesern gerne noch „die Härte der Lebenswirklichkeit“ vor Augen geführt, „die für die Mehrzahl aller direkten und indirekten Arbeitsmigranten Normalität war“.

Gastarbeiterfrage als        Mittel der Außenpolitik

Das größte Manko des Buches sind freilich nicht diese mehr oder weniger beklagenswerten Desiderate, sondern die schon regelrecht manipulativen Aussagen über die „Bedingungskonstellationen“, welche zu den „dichten Migrationsbeziehungen“ zwischen der Bundesrepublik und der Türkei geführt haben. Hier muß Rass immer wieder betonen, daß dieses Phänomen fast ausschließlich aus utilitaristischen Erwägungen der deutschen Seite resultierte: Der Arbeitsmarkt der Bundesrepublik habe 1961 unter einer enormen Angebotslücke gelitten, die nur durch die Akquirierung türkischer Arbeitskräfte geschlossen werden konnte.

Dabei pfeifen doch längst die Spatzen von den Dächern, daß die Zugeständnisse an Ankara in puncto Arbeitsmigration in Richtung Deutschland ganz wesentlich aus der Absicht resultierten, das wichtige Nato-Mitglied Türkei auf Kosten des Hauptverlierers des Zweiten Weltkrieges zu saturieren. In dem 2008 erschienenen Werk von Heike Knortz „Diplomatische Tauschgeschäfte. ‘Gastarbeiter’ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973“ kann man sich darüber eingehend informieren. Knortz argumentiert, daß die eigentlichen Impulse für die Anwerbung nicht von der bundesdeutschen Industrie und der steigenden Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ausgegangen seien. Hauptverantwortlich sei vielmehr das Auswärtige Amt gewesen, das von Italien, Griechenland, Spanien, Portugal und später auch der Türkei zu Anwerbeabkommen gedrängt worden und aus historisch bedingten Rücksichtnahmen im Anwerbeverfahren auch federführend geworden sei. Wie sonst sollte ein rückständiges Land, das sich dennoch den Luxus der zweitstärksten Armee innerhalb der Nato leistete, zu den dringend benötigten Devisen kommen? Bei Rass gerät indes sogar das berühmt-berüchtigte Deutsch-Türkische Abkommen über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964, welches türkische Gastarbeiter partiell besserstellte als deutsche Arbeitnehmer, zu einer Abmachung, die vorrangig der deutschen Seite Nutzen bescheren sollte.

Andererseits kommt selbst der Aachener Migrationshistoriker nicht umhin, in seinen Darlegungen ab und an einige bezeichnende Wahrheiten anzutippen. So erwähnt er an einer Stelle, daß die deutsch-türkische Vereinbarung von 1961, durch die die Wanderungsbewegung in Richtung Bundesrepublik ausgelöst wurde, „auf einer niedrigeren Ebene diplomatischer Kommunikation“ erfolgte, „als dies bislang üblich gewesen war“. Als Grund für diese Geheimniskrämerei nennt Rass die Angst vor ablehnenden Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit. Ebenfalls interessant sind seine Zahlen zur illegalen Arbeitskräfteeinwanderung: Immerhin zwanzig Prozent der türkischen „Gastarbeiter“ umgingen die offiziellen Migrationskanäle – das heißt, sie kamen praktisch ohne Genehmigung nach Deutschland! Dies führt die immer wieder strapazierte These, daß man gegenüber Menschen, die zum Nutz und Frommen der deutschen Gesellschaft ins Land „geholt“ worden seien, nun eben Verantwortung trage, zumindest zum Teil ad absurdum.

Christoph Rass: Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt: Bilaterale Wanderungsverträge in Europa 1919 –1974, Schöningh Verlag, Paderborn 2010, gebunden, 571 Seiten, 58 Euro

Foto: Spanische Arbeiter treffen im Juli 1969 am Hauptbahnhof in Hannover ein: Ausschließliche Betonung eigennützlicher deutscher Interessen

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