© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Im Sinne des Auftraggebers
Ein Historikergremium hat enthüllt, daß im Außenministerium des Dritten Reiches tatsächlich auch Nationalsozialisten tätig waren
Thorsten Hinz

Der Titel „Das Amt und die Vergangenheit“ klingt verheißungsvoll, aber er täuscht: Das Buch bietet keine Geschichte des Auswärtigen Amtes, dessen Wurzeln auf das im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen gegründete preußische Außenministerium zurückgehen. Die 200jährige Amtsgeschichte schnurrt hier auf die zwölfjährige NS-Herrschaft zusammen. Davor liegt nichts, und danach kommt ihre verdrängte, durch Außenminister Joschka Fischer endlich eingeleitete „Aufarbeitung“.

Der fünf-, dann vierköpfigen Kommission, die diese Studie erarbeitet hat, gehörten mit dem Amerikaner Peter Hayes und dem Israeli Moshe Zimmermann zwei ausgewiesene Holocaust-Experten an. Der Jenaer Zeitgeschichtler Norbert Frei ist ein Spezialist für deutsche Vergangenheitsbewältigung. Der Marburger Historiker Eckart Conze war der einzige Außenpolitik-Experte in der Runde, nachdem der Bonner Historiker Klaus Hildebrand aus Krankheitsgründen ausscheiden mußte.

Motiv von „Hitlers willigen Vollstreckern“ wird variiert

Nun kann die Geschichte eines Außenministeriums und das Handeln seiner Mitarbeiter nicht beurteilt werden, ohne die außenpolitische Ausgangslage zu analysieren. Im Jahr 1933 war Deutschland gemäß dem Versailler Vertrag militärisch wehrlos und wesentlicher Souveränitätsrechte beraubt. Das Reich war zu schwach, um die drangsalierten deutschen Minderheiten im Ausland zu schützen. Hinzu kam ein begrenzter Bürgerkrieg, dessen Fronten sich mit denen des Europäischen Bürgerkriegs überlagerten. Oswald Spengler schrieb 1933, kein zweites Land sei derart „handelnd oder leidend in das Weltschicksal verflochten“, keines „tiefer bedroht“ und in seiner „Existenz im erschreckenden Sinne des Wortes in Frage“ gestellt als Deutschland. Er bezweifelte, daß die Nationalsozialisten der Situation gewachsen waren. Diese Zweifel waren auch dem Auswärtigen Amt nicht fremd.

Solchen grundsätzlichen Erwägungen sind nur knapp zwei der fast 900 Seiten gewidmet, was die Relevanz des Buches zusätzlich einschränkt. Erwähnt wird immerhin, daß Anfang 1933 bedrohliche Signale aus Paris und vor allem aus Warschau empfangen wurden. Der polnische Gesandte erklärte am 17. Februar 1933, er sehe „beide Länder am Rande des Krieges“. Das Ministerium hielt einen Militärschlag und die Besetzung deutscher Gebiete für möglich. Solche konkreten und allgemeinen Gefahren bestimmten natürlicherweise seine Haltung zu den nationalsozialistischen Machthabern. Wie in jedem anderen Land war es die Aufgabe gerade des deutschen Außenamtes, den Staat als Ganzes zu vertreten, anstatt ihn international zu schwächen und innenpolitische Konflikte nach außen zu tragen.

Die 1945 eröffnete Schlußbilanz ließ sich 1933 nicht einmal in Ansätzen erahnen. Deshalb fällt es keineswegs aus dem Rahmen staatspolitischer Verantwortung, wenn das Auswärtige Amt die Gewaltakte gegen innere Gegner vor dem Ausland bagatellisierte oder als revolutionäre Exzesse gleichsam entschuldigte. So erteilte Staatssekretär Bernhard von Bülow am 13. März 1933 die Anweisung, statistisches Material zur überproportionalen Präsenz von Juden im öffentlichen Leben zusammenzustellen. Es sollte den deutschen Auslandsvertretungen als Argumentationshilfe dienen, um der Empörung über antisemitische Maßnahmen entgegenzutreten.

Für solche außen- und staatspolitischen Perspektiven interessieren die Autoren sich nicht. Ihr Blick bleibt eindimensional auf moralisches Versagen, auf die Tendenz zur Selbstgleichschaltung und die Beihilfe zur Judenverfolgung gerichtet, deren Grund sie in einem antisemitischen und antidemokratischen Konsens der konservativen Ministerialbürokratie erblicken. Korrekterweise hätte das Buch heißen müssen: „Das Amt und der Holocaust“. Den Hintergrund bildet Daniel Goldhagens Motiv von Hitlers willigen Vollstreckern, das variiert und entfaltet wird. Die Autoren wollen nachweisen, daß das Auswärtige Amt an der Entscheidung über die Judenvernichtung „aktiv beteiligt“ gewesen war. Die erwähnte Anweisung von Staatssekretär Bülow markiere „gewissermaßen den Anfang“ des Wegs zur „Endlösung der Judenfrage“.

Der Begriff „Endlösung“ wird suggestiv und inflationär verwendet. Er bezeichnet gemeinhin die „systematische Ausrottung der Juden“ (Imanuel Geiss). Hier jedoch findet er gleichfalls für die Vertreibung bzw. für die zunächst ins Auge gefaßte Konzentrierung der Juden in Reservaten – etwa in Madagaskar – Verwendung. Zwischen solchen Plänen und Vorgängen besteht aber ein grundsätzlicher Unterschied, auf den im Fall der deutschen oder palästinensischen Vertriebenen zu Recht hingewiesen wird.

Viele Fakten und Zusammenhänge sind aus früheren Veröffentlichungen bekannt, so aus Hans-Jürgen Döschers „SS und Auswärtiges Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der ‘Endlösung’“ (1987), dem 2005 das Buch „Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts“ folgte. Die besondere Qualität des aktuellen Werks liegt in einer folgenreichen Zuspitzung. Döscher hatte noch unterschieden zwischen dem Gesamtorganismus des Auswärtigen Amtes und den nach 1933 eingerichteten, NS-durchsetzten Sonderreferaten, die direkt mit jüdischen Belangen befaßt waren und im Mai 1940 zur „Abteilung Deutschland“ zusammengefaßt wurden. Ihr gehörte auch der berüchtigte Franz Rademacher an, der 1943 in einer Kostenabrechnung die „Liquidation von Juden in Belgrad“ als Reisegrund angab. „Das Amt und die Vergangenheit“ hebt die Unterscheidung auf und erklärt Funktion und Geist dieser Abteilung als repräsentativ für das gesamte Haus.

Auf Seite 185 wird ihm sogar eine führende Rolle zugewiesen: „Das Schicksal der deutschen Juden wurde am 17. September 1941 besiegelt: An diesem Tag fand ein Treffen Hitlers mit (Außenminister) Ribbentrop statt. (...) Das Auswärtige Amt ergriff die Initiative zur Lösung der ‘Judenfrage’ auf europäischer Ebene.“ Geht das Fehlen von konkreten Belegen nur auf Schlamperei zurück? FAZ-Redakteur Rainer Blasius verweist am 19. November auf zwei Arbeiten des amerikanischen Holocaust-Forschers Christopher Browning von 1978 und 2003. In der zweiten zitiert Browning den Dienstkalender Heinrich Himmlers. Danach ist Ribbentrop am besagten Tag sowohl mit ihm als auch mit Hitler zusammengetroffen. „Ostminister“ Alfred Rosenberg wird ebenfalls erwähnt. Browning meint, daß Rosenbergs und Ribbentrops Demarchen „allenfalls der Anlaß für Hitlers Entscheidung (zur Deportation der Juden – Th. H.) gewesen sein“ könnten, ausschlaggebend dafür sei Hitlers „euphorische Siegesstimmung“ gewesen. Blasius nimmt an, daß die Verfasser des „Amtes“ aus Brownings „quellenkritisch äußerst diffizilen Betrachtungen“ eine „grobe publikumswirksame Schlußfolgerung gezimmert“ hätten. Das trifft wohl zu. Doch die Voraussetzungen, die solche Thesen möglich und „publikumswirksam“ machen, werden damit nicht erfaßt.

Vor fast dreißig Jahren veröffentlichte Ingeborg Fleischhauer in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (30/1982) einen Aufsatz über die Verbannung der Wolgadeutschen nach Sibirien. Am 28. August 1941 hatte Stalin ein entsprechendes Dekret erlassen. „In Deutschland herrschte größte Betroffenheit. Als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete hatte Rosenberg nach Bekanntwerden des Dekrets ‘Richtlinien für die Rundfunkpropaganda (...)’ festgelegt, in denen er die Juden der besetzten Ostgebiete zu Opfern seiner ohnmächtigen Wut machte.“ Und nicht nur sie. O-Ton Rosenberg: „Wird das Verbrechen an den Wolgadeutschen Wirklichkeit, so wird das Judentum dieses Verbrechen vielfach zu begleichen haben.“ Die Juden Zentral­europas würden dann „ebenfalls in die östlichsten der von der deutschen Verwaltung geleiteten Gebiete abtranstiert“. Fleischhauer schränkt ein, Rosenbergs Anweisung sei nur ein „propagandistischer Bluff“ gewesen, unter anderem, weil die mitteleuropäischen Juden sich bereits im „Abtransport“ befanden. Darauf hat Ernst Nolte in seinen „Streitpunkten“ (1993) erwidert, „daß man konkrete Ereignisse nicht aus der Kette von Aktionen und Reaktionen herauslösen“ dürfe. Der Beschluß zur Deportation der mitteleuropäischen Juden sei erst mehrere Wochen nach dem Deportationsbefehl des russischen Diktators erfolgt, „und es ist nicht auszuschließen, daß er tatsächlich unmittelbar als eine Reaktion auf die sowjetischen Maßnahmen gedacht war“. Weder Browning noch die Verfasser des „Amtes“, noch Blasius ziehen diesen Kontext in Betracht. Gerade dort, wo Geschichtsschreibung sich als kritisch versteht, gleichen sie oft eher einem Schattenboxen.

An anderer Stelle heißt es, daß das Amt von den Deportationen, die die Gauleitungen in Pommern sowie in Baden und der Saarpfalz 1940 veranlaßten, „überrascht“ worden sei. Anschließend wird kritisiert, daß keine „prinzipielle Kritik an der Maßnahme selbst“ erfolgte, sondern lediglich die Forderung erhoben wurde, das Auswärtige Amt am Entscheidungsprozeß teilhaben zu lassen. Gerade dieser Vorgang zeigt aber, daß das Ministerium in der NS-Entscheidungshierarchie eine nachgeordnete Instanz war. Zweitens müßten Historiker wissen, daß Widerspruch in einem Gewaltregime nur im Rahmen seiner politisch-ideologischen Voraussetzungen möglich ist.

Im September 1941 hatte Franz Rademacher als Grund für die Dienstfahrt nach Belgrad die „Abschiebung“ von Juden angegeben. Wie sich aus dem zitierten Schriftwechsel ergibt, war dies als „Vergeltungsmaßnahme für „zahlreiche Sabotage- und Aufruhrakte“ vorgesehen. Eineinhalb Jahre später, im April 1943, reichte er als Begründung die „Liquidation“ nach, was Uneingeweihten nicht zwingend eine „Liquidierung“ nahelegte. In aller Regel wählten die involvierten Instanzen eine verschleiernde Sprache und sorgten für eine abgestufte Dosierung des Informationsflusses. Selbst im Protokoll der Wannseekonferenz ist von „Ausreise“, „Arbeitseinsatz“, „Evakuierung“, nicht aber von Vernichtung die Rede.

Wem im Ausland bessere Informationsmöglichkeiten zur Verfügung standen, für den allerdings konnte das Furchtbare rasch zur Gewißheit werden. Im September 1943 zeichnete sich in Rom die Verhaftung von 8.000 Juden ab. Der junge Diplomat Eitel Friedrich Moellhausen versuchte die Aktion zu verhindern, indem er Außenminister Ribbentrop informierte, daß ihnen die Deportation nach Oberitalien drohte, „wo sie liquidiert werden sollen“! Ribbentrop ließ ihm antworten, die Juden sollten „als Geiseln“ nach Mauthausen gebracht werden und verbot ihm unter Berufung auf eine „Führerweisung“ jede Einmischung. Das Buch unterschlägt, daß Ribbentrop über Moellhausens Wortwahl sehr ungehalten war. So erspart der Autor sich die Antwort auf die Frage, ob und in welchem Ausmaß das, was im diplomatischen Schriftverkehr mit Schweigen bedeckt sein sollte, in der hausinternen Kommunikation tatsächlich erlaubt, bekannt und verbreitet sein konnte.

Die Fälle von Rademacher und von Moellnhausen bestätigen in unterschiedlicher Weise einen Zusammenhang, auf den Staatssekretär Ernst von Weizsäcker – der im Buch als exemplarisch für das politische und menschliche Versagen der Beamtenschaft herausgestellt wird – in seinen „Erinnerungen“ und nachgelassenen „Weizsäcker-Papieren“ mehrfach verweist: auf den Zusammenhang zwischen dem Ausbruch und der Ausweitung des Krieges und der Eskalation der Judenverfolgung bis hin zum Massenmord. Den Juden, so Weizsäcker, sei nur durch die Beendigung des Krieges zu helfen gewesen. Entsprechenden Bemühungen aber hätte die alliierte Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands entgegengestanden.

Im zweiten Teil unterzieht Norbert Frei das Verhalten der Angehörigen des Auswärtigen Amtes nach 1945 und die Bonner Personalpolitik einer schneidenden Kritik. Vieles davon hat er bereits in seinem 1996 erschienenen Buch „Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“ ausgeführt. Die juristischen, völkerrechtlichen, politischen, moralischen und psychologischen Probleme, welche die automatische Internierung deutscher Diplomaten durch die Alliierten und ihre Unterwerfung unter die Siegerinstanzen nach sich zogen, stellen sich dem Zeitgeschichtler Frei nicht.

Etwas besser sieht es in den von Eckart Conze verfaßten Kapiteln aus, soweit sie einen Abriß der Bonner Außenpolitik bieten. Anbiedernd wirkt, daß Kritiker Joschka Fischers als „umtriebig“ bezeichnet werden, dem Ex-Minister hingegen eine „erstaunliche Metamorphose vom Sponti zum Staatsmann“ bescheinigt wird. Solche Kleinigkeiten stützen den Verdacht, daß das Buch im Sinne des Auftraggebers verfaßt wurde. Der kann mit dem Ergebnis wahrlich zufrieden sein.

Ein Standardwerk, das den Titel „Das Amt und die Vergangenheit“ zu Recht trägt, muß erst noch geschrieben werden. Das vorliegende Konvolut wird dann allenfalls als Quelle und Findbuch von Nutzen sein.

Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann (Hrsg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Blessing Verlag, München 2010, gebunden, 880 Seiten, 34,95 Euro

Foto: Am 1. Juli 1939 präsentiert sich das Auswärtige Amt in der Berliner Wilhelmstraße mit zeitgemäßem Flaggenschmuck: Schlüssiger Nachweis einer „aktiven Beteiligung“ an der Judenvernichtung bleibt aus

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