© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Präziser Beobachter
Benjamin von Stuckrad-Barre auf Lesetour
Werner Veith

So könnte sich Lieschen Müller junge NPD-Funktionäre vorstellen: Wölfe getarnt im feinen Zwirn, umhüllt von blütenweißen Hemden mit schwarzer Krawatte. Nur das auf drei Millimeter kurzgeschorene Haar ist verdächtig.

Doch dann plaudern die beiden Herren nicht über Politik, sondern über Mode und Musik und von der Mühsal, gute Winterstiefel in Berlin zu kaufen. Genauer gesagt: Sie lesen in verteilten Rollen aus der Reportagesammlung „Auch Deutsche unter den Opfern“ von Benjamin von Stuckrad-Barre. Sie – das heißt der Autor selbst und der Radiomoderator Jörg Tadeusz. Sie gehen mit Udo Lindenberg in einen Hutladen, zum Fußball auf die Fanmeile am Brandenburger Tor und fahren gar mit Frau Merkel im Rheingold-Express. Dort stellt Stuckrad-Barre (35) manch sonderbare Fragen: Ob die Thüringer Wurst geschmeckt habe, was ihre persönliche Sehnsuchtslandschaft sei usw. Zuweilen geht es in Richtung Kabarett, das Duo imitiert fabelhaft Körpersprache und Tonlage.

Ironie und leiser Spott blitzen auf

In den späten 1990er Jahren galt Stuckrad-Barre vielen als Haßfigur. Linksliberale Pharisäer kreuzigten ihn, weil er nicht genug „gesellschaftskritisch“ sei. Seine Texte seien „affirmativ“, seine Schreibweise bestätige lediglich die sozialen Verhältnisse. Er schreibe ohne Mitgefühl, dafür viel zuviel über Musik und Mode. Die Folge? Kübelweise übergossen ihn Kommentatoren mit Hohn und Spott. Dabei schrieb er oft nur wertfrei, eisgekühlt und schnörkellos.

Und heute? Der Pulverdampf ist verzogen. Stuckrad-Barre wird allenthalben als präziser Beobachter von Land und Leuten gelobt. In der Tat: Seine beiläufigen Urteile sind manchmal verblüffend: „Man kann sich Merkels Macht nicht erklären. Aber man spürt sie.“

Warum soll man Stuckrad-Barres Reportagen über Deutschland lesen und gleichzeitig in seine Show gehen? 15 Euro für das Buch und dann nochmals 19 Euro, um ihn leibhaftig zu sehen. Wo ist der Mehrwert? Er kommentiert seine eigenen Texte, „ja, so war es wirklich“, kleine Einsprengsel meist, die seine Recherchemethode zeigen. Ironie und leiser Spott blitzt immer wieder auf – aja, so war es gemeint. Zum Schluß gibt es meist Gereimtes von Schnelldichter Jörg Tadeusz, zum Beispiel lustige Verse über die Frauen der jeweiligen Stadt.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Auch Deutsche unter den Opfern. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, kartoniert, 333 Seiten, 14,95 Euro

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