© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Im Dezember wird mein Leibantiquariat schließen, nach einhundertfünfzig Jahren Firmengeschichte, fünfunddreißig Jahren meiner Kundschaft. Wie die meisten Antiquariatsgänger zieht mich der Geruch von altem Papier und Leim magisch an, weckt den Jäger und Sammler, fasziniert die Optik der verschiedenen Geschäfte, weniger die der sparsamen mit den Renommierstücken und den enormen Preisen, eher die der wohlgeordneten, am meisten die der überquellenden, mit Stapeln auf dem Boden, die gefährlich schwanken, wenn man sich ihnen nähert und der Antiquar ruft: „Passen Sie auf, die fallen um!“ Das Ende der Hölty-Stube in Göttingen ist natürlich Teil eines Schwunds, der schon vor Jahren einsetzte, sicher auch Folge des Handels im Internet, der Konkurrenz der großen Antiquariatsportale, der Do-it-yourself-Antiquare bei ebay. Aber das ist es nicht allein. Der Inhaber meinte, das Hauptproblem sei der Generationenwechsel, es gebe kaum noch Junge, die es interessiere, sich eine eigene Bibliothek aufzubauen, da habe sich Grundsätzliches verändert.

Es ist natürlich ermüdend, immer wieder darauf hinzuweisen, aber doch notwendig, daß der Umgang mit der roten so ganz anders ist als der mit der braunen Vergangenheit. Wieviel menschliches Verständnis findet sich etwa für Dieter Feuerstein, weiland „Kundschafter des Friedens“, schon als Sprößling von DDR-Spion und -Spionin zur Welt gekommen, bis heute ungebrochen und Organisator einer Art HIAG für Ehemalige, bekennender Kommunist nach wie vor und Besitzer einer Firma für Patentrecherche. Zuletzt noch das Symbolische: Der Mann fährt einen alten Mercedes, daran das Nummernschild „M – FS“.

Das Interesse an Identität ist allgemein, aber je verschieden ausgerichtet: Die Linke interessiert sich für die Anomalie, die Rechte für die Normalität, die Linke faszinieren multiple Persönlichkeiten, die Rechte das Vorbild.

Carl Schmitt meinte, daß es einen „Bücherengel“ gebe, der dafür sorge, daß man im richtigen Moment das richtige Buch finde. Eine freundliche Vorstellung, die der eine oder andere Geistesarbeiter aus Erfahrung plausibel findet. Wenn, dann ist das Antiquariat der bevorzugte Aufenthaltsort für diese Gattung Himmelswesen. Denn da findet man selten, was man sucht, häufiger, wovon man noch gar nicht wußte, daß man es suchen sollte. Natürlich gibt es die Seltenheit, auf die einen der Antiquar, den man kennt, ausdrücklich hinweist, aber das Fest für den Bibliophilen sind doch die großen, unerwarteten Ankäufe. Ich erinnere mich noch gut, als sich während meines Studiums plötzlich wie ein Lauffeuer herumsprach, daß die Bibliothek von Helmuth Plessner waschkorbweise in einem Antiquariat angeliefert würde; da war kein Halten mehr und ein, zwei Dutzend Kommilitonen schlichen während der Vorlesungspause möglichst unauffällig davon, um sich kurz darauf und nicht besonders überrascht vor den Stapeln mit Büchern hockend wiederzusehen.

Zu den wenig beachteten Jubiläen gehört die Gründung der Camelots du roi, der „Straßenjungen des Königs“, Zeitungsverkäufer und Schutztruppe der Action Française (AF), vor einhundert Jahren. Wenn man die Bilder von den Anfängen sieht, ist man irgendwie gerührt über den Aufzug in bürgerlichem Rock oder Arbeiterjoppe, die einen den Strohhut, die anderen die weiche Mütze auf dem Kopf, als schwerste Waffe den Spazierstock dabei. Trotzdem stehen die Camelots im Ruf, eine Art Proto-SA gewesen zu sein. Ihre Verteidiger sehen das begreiflicherweise anders. Die Jungroyalisten, die in Frankreich das Erbe der AF hochhalten, verweisen auf den defensiven Charakter der Camelots, die Aggressivität der Linken nach ihrem Sieg in der Dreyfus-Affäre. Für diese Sicht der Dinge gibt es durchaus Gründe: Als der Verband nach dem Ersten Weltkrieg reorganisiert wurde und 1923 Marius Plateau an die Spitze des nationalen Sekretariats trat – ein Veteran des Krieges, infolge seiner Verwundung zum Teil gelähmt –, fiel er einem Anschlag der Anarchistin Germaine Berton zum Opfer, Heroine der surrealistischen Zirkel von Paris. Sozialisten und Kommunisten empfanden mehr als klammheimliche Freude, das Gericht würdigte Bertons Motive und sprach sie frei.

Bürgerliche Parteien können schwer der Versuchung widerstehen, die Politik ihrer Gegner zu treiben.

Von Arnold Gehlen wird berichtet, daß er den Schlüssel der Seminarbibliothek der Soziologen in Speyer persönlich verwahrt und nur an Studenten ausgeliehen habe, denen er zutraute, daß sie lesen könnten. Das war natürlich gegen alle geltende Vorschrift, hat aber doch etwas Einnehmendes. Man schärft so das Bewußtsein für den Wert des Buches, wenn auch auf andere Weise als in den alten Bibliotheken, wo man kostbare Bücher an die Kette legte.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint in zwei Wochen in der JF-Ausgabe 50/10.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen