© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

CD: Baroque
Vorstoß zurück
Jens Knorr

Nach dem Wechsel des französischen Pianisten Alexandre Tharaud von Harmonia Mundi zu Virgin hat nun das verlassene Label seine drei erfolgreichen Einspielungen von Klaviermusik des frühen 18. Jahrhunderts unter dem Titel „Baroque“ zusammengefaßt.

Klaviermusik? Jean-Philippe Rameau, Johann Sebastian Bach und François Couperin haben nicht für das Klavier, sondern für das Cembalo komponiert. Daß sich Tharaud für einen Steinway D entschied, bedeutet keineswegs, daß er sich hinter Originalklangbewegung und historische Aufführungspraxis zurückfallen lassen wollte. Seine Rückbesinnung auf die Wurzeln der französischen und, im Falle der Bearbeitungen italienischer Konzerte durch den Weimarer Konzertmeister Johann Sebastian Bach, der europäischen bürgerlichen Musik bedeutet vielmehr einen Vorstoß.

Von Rameau spielt Tharaud die letzten beiden Suiten in A und in G, die in ihrer Schreibweise dem Pianoforte am nächsten stehen, ergänzt durch Claude Debussys „Hommage à Rameau“ aus den „Images“. Bachs „Concerto nach italienischem Gusto“ BWV 971 aus dem zweiten Teil der Klavierübung stellt er dessen Konzerte nach Marcello und Vivaldi gegenüber, eröffnet und beschlossen von dem Siciliano aus dem Orgelkonzert BWV 596 nach Vivaldi und dem Andante aus dem Konzert BWV 979 nach Torelli in je eigener Transkription. Von Couperin spielt er keinen kompletten „Ordre“, sondern jene Stücke aus den Suiten, die ihm als die „pianistischsten“ erscheinen, gefolgt von „La Pothouin“ aus dem vierten Buch der Stücke für das Clavecin des dunklen Jacques Duphly, das in just dem Jahr erschien, 1768, da in Paris ein neues Instrument öffentlich vorgestellt wurde: das Hammerklavier.

Unter Tharauds Händen klingen die Stücke nicht so, wie es in der Steinzeit unhistorischer Aufführungspraxis gang und gäbe war, als hätte ihren Komponisten eigentlich der Klang des modernen Klaviers vorgeschwebt – oder im Falle Duphlys am Ende vielleicht doch? –, das nur leider, leider noch nicht gebaut ward. Das Wissen um Technik und Klang der Originalinstrumente und stimmige Spieltechnik sind Bedingung für die Freiheiten, die der Pianist sich nehmen kann, weil die Stücke sie ihm geben. Dieser hier gibt detailliert und detailversessen Rechenschaft über seine durchaus verblüffenden Entscheidungen, die er aus dem Studium der Quellen und den praktischen Problemen der Übertragung vom Cembalo auf das Klavier beziehungsweise, im Falle Bachs, der Transkription von dessen Transkriptionen wohl begründen kann. Er tilgt nicht die Spuren der Interpretationsgeschichte aus den Stücken, er macht sie kenntlich und schreibt sie fort.

Die drei barocken Spiele des Pianisten Tharaud leben aus der Spannung zwischen Notentext und interpretatorischer Freiheit, die das Werk ausmacht, einzig existent in dem Moment seines Erklingens. Sein Spiel hebt das Denken über Nachschöpfung in ein Nachdenken über Schöpfung auf. Mit den Komponisten führt er den Diskurs über ihre Kompositionen, einen sehr französischen, also an- und aufregenden Diskurs. Der Interpret von Rang macht sich weder mit ihnen noch mit seinem Publikum gemein.

Alexandre Tharaud, Baroque Harmonia Mundi, 2010  www.harmoniamundi.com

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