© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Der Wahnsinn im Gesundheitssystem
JF-Leserzuschriften: Die Forderung von Dieter Stein nach mehr Transparenz ist auf ein breites Echo gestoßen

Transparenz ist der Schlüssel“ war ein Beitrag von Chefredakteur Dieter Stein vor vier Wochen auf der Titelseite der JUNGEN FREIHEIT überschrieben. Darin befaßte er sich anhand eines Besuches bei einem HNO-Arzt mit den Fallstricken des deutschen Gesundheitssystems und seiner Finanzierung (JF 44/10). Dieser Artikel hat bei unseren Lesern ein großes Echo ausgelöst.

„Jeder, der Geld verdient, zahlt in einen der riesigen Umverteilungstöpfe ein, aus denen ein Apparat bezahlt wird, der einen in aller Welt bewunderten deutschen Standard der Gesundheitsversorgung garantiert“, schrieb Stein. Im Laufe der Jahrzehnte sei jedoch ein Umverteilungsmoloch entstanden, der für den Laien undurchschaubar geworden sei. „170 Milliarden Euro gaben allein die Gesetzlichen Krankenkassen 2009 für medizinische Leistungen und Arzneimittel aus. Verbandsvertreter der Krankenversicherungen, der Ärzte, der Apotheker, der Pharmaindustrie streiten um einen riesigen Kuchen, den es jährlich zu verteilen gilt. Und die Kostenspirale dreht sich weiter, nicht zuletzt aufgrund der durch Demographie und steigende Lebenserwartung bedingten Überalterung und kostenintensiven medizinischen Neuerungen“, heißt es weiter.

Doch nicht die Beitragserhöhung der gesetzlichen und die noch saftigere der privaten Kassen zum Jahreswechsel regte zahlreiche JF-Leser an, uns zu schreiben, sondern Steins Forderung nach mehr Kostenklarheit und -wahrheit: „Ob in der eigenen Firma oder im Staat: Eines der wichtigsten Instrumente gegen aus dem Ruder laufende Kosten ist nicht mehr Reglement, sondern zuallererst die Herstellung von Transparenz. Alle an der Verursachung von Kosten Beteiligten müssen einbezogen werden: Jedem Patienten muß bewußt sein, welche Kosten ein Arztbesuch im Detail auslöst, und er soll die Gelegenheit haben, so es möglich ist, überflüssige Behandlungen auch durch Verhaltensänderungen zu vermeiden.“

Hier finden sie eine Auswahl aus den zahlreichen eingegangenen Leserzuschriften zu diesem Thema. Die Redaktion

 

 

Nur private Versicherer bringen Transparenz

Es stimmt nur zum Teil, was Sie schreiben. Ich bin HNO-Arzt und verfahre nicht so, wie Sie in Ihrer Kolumne berichten. Die Gebührenordnung ist in der Auslegung und Abrechnung teilweise sehr dehnbar. Es kann durchaus vorkommen, daß für dieselben Leistungen bei Arzt X 18,45 Euro und bei Arzt Y 120,67 Euro bezahlt werden müssen, und das ist tatsächlich legal – so gibt es bei derselben Aktenlage bei Richter X vier Jahre Haft und bei Richter Y eben sieben. Sie verallgemeinern genauso wie die Leute der Migrationsindustrie, die eine gelungene Integration aus der Schublade holen und das dann auf die anderen 999 Fälle anwenden. Tatsache ist, daß seit Jahren die ärztlichen Einkommen sinken. Ginge es nach mir, hätte ich nichts dagegen, wenn die gesetzlichen Krankenkassen genauso strukturiert würden wie die privaten. Dann gibt es keine Minibeitragszahler, wie zum Beispiel 60 Euro für eine türkische weibliche Putzkraft, an der dann der ganze Clan hängt: Wenn Besuch kommt, werden schnell mal die Krankenversichertenkarten ausgeliehen. Unser System krankt aber nicht nur daran.

Viele Kinder sind einfach nur schlecht erzogen und fallen dadurch den Kassen zur Last mit Ergotherapie und Logopädie. Wenn ich dann die Eltern dieser (meist dicken) Kinder frage, ob zu Hause jemand mal mit ihnen spielt oder spazieren geht oder etwas Sport treibt oder lernt, herrscht betretendes Schweigen – letztlich hängen diese Kinder (meist Unterschicht) zu viel vor der Glotze und bewegen sich nicht. Zudem werden völlig unsinnige medizinische Leistungen erbracht. Zudem spielt die Qualität der Ärzte bei den Kosten eine entscheidende Rolle. Diagnostisch schwache Klinikärzte kommen unserem System teuer zu stehen (es ist fast wie mit den „Bankern“). In Krankenhäusern arbeiten mittlerweile viele nicht gut deutschsprechende Ärzte, mit denen man sich am Telefon kaumverständigen kann. Wie sollen diese kostengünstig arbeiten können? Aber nicht nur die Ärzte verplempern Geld durch ihren schlechten Ausbildungsstand, die Krankenkassen zahlen in irgendwelche Selbsthilfegruppen Unsummen – und es kommt nichts dabei heraus. Man kann es kurz fassen: Diejenigen, die sich aus freiem Antrieb bewußt gesund und fit halten, müssen länger arbeiten und diejenigen sponsern, die genau das Gegenteil machen. Das ist einfach ungerecht. Nur private Versicherer bringen erhöhte Transparenz, mit den gesetzlichen Kassen wird es das nie geben. Der Lobbyismus wäre deutlich vermindert.

Dr. med. Konrad Frey, Dorsten

 

 

Von 100 Euro bleiben nur 20 Euro Lohn

Ein anderer Arzt ist aufgrund seiner Sorgfaltspflicht gehalten, bei einem neuen Patienten stets einen kompletten HNO-Status zu machen, um keine wesentliche Erkrankung zu übersehen. Er hätte aber darauf hinweisen sollen. Von den etwa 100 Euro Artzhonorar sind zirka 63 Euro Unkosten, 17 Euro Steuern und 20 Euro Lohn. Vom Lohn wiederum werden noch abgezogen: Renten- und Krankenversicherung sowie Schuldenabtrag. Ich denke, das relativiert die Preisgestaltung etwas. Im übrigen ist die GOÄ für Privatpatienten seit über 25 Jahren (!) nicht erhöht worden.

Bei Kassenpatienten hingegen sieht die Abrechnungssituation in der Facharztpraxis für HNO, Augen, Dermatologie, Orthopädie, Neurologie und Gynäkologie ganz anders aus. Hier entsteht durch kassenärztliche Tätigkeit überhaupt kein Lohn. Die RLV (Regelleistungsvolumen) decken in einigen Bundesländern nicht einmal die Praxisunkosten. Hochspezialisierte Facharztpraxen sind zum großen Teil kollektiv insolvent und leben nur noch von ihren Privatpatienten und Nebenjobs.

Dr. med. Matthias Krist, Künzelsau

 

 

Kein Normalsterblicher versteht Umverteilung

Jeder privat Krankenversicherte versteht Ihren Ärger. Doch die gesetzlich Versicherten schert das nicht. Sie fühlen sich immer nur zurückgesetzt gegenüber den sogenannten Privatpatienten. Eines ist klar: Wenn in einem System wie der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Umsätze in Höhe des halben Bundeshaushaltes gemacht werden, wittern die Haie und Hyänen Beute. Weder die Kassenärzte noch die Kassenärztliche Vereinigung noch die gesetzlichen Versicherer wollen sich in die Karten schauen lassen. Kein Normalsterblicher kapiert die Umverteilung seiner Beiträge. Ich habe noch nie davon gehört, daß Transparency International sich an diesen Moloch rangewagt hätte.

Aber selbst wenn alle Versicherten den Durchblick hätten, ist dieses System zum Untergang verdammt, weil jeder dank der „Profit-Religion“ glaubt, mindestens das aus der Versicherung rausholen zu müssen, was er eingezahlt hat. Bei der GKV sogar derjenige, der nie einen Beitrag eingezahlt hat.

Holger Borgmann, Neu Darchau

 

 

Sozialisierte Patienten versus privatisierte

Bei dem bestehenden Gesundheitssystem wachsen die Kosten ohne Ende. Aber wie könnte es anders sein, wenn der Patient „sozialisiert“, d.h. entmündigt ist und zur Zahlung von Versicherungsbeiträgen, auf deren Höhe er keinen Einfluß hat, verpflichtet ist, und jede Arztpraxis und die Pharmaindustrie andererseits in Privathand und damit auf Gewinnerwirtschaftung und -maximierung ausgerichtet sind? Hinzu kommt, daß das System dadurch verpfuscht ist, daß es eine gesetzliche und eine private Krankenversicherung gibt, also eine Zwei-Klassen-Medizin. Bei den gesetzlichen kann der Arzt nur einen Grundpreis kassieren, bei den privaten aber den Grundpreis multipliziert mit 2,3 (und bei Begründung mit 3,5). Man braucht nicht lange zu raten, welche Patienten von der Ärzteschaft bevorzugt werden.

Die Beamtenschaft, die die entsprechenden Vorschriften und Gesetze zur Gesundheitsversorgung erarbeitet, und mit ihr auch die politische Nomenklatura, die den Beamtenstatus besitzt, haben kein Interesse, das System zu ändern, da sie über die Beihilfeverordnungen billigst an der privaten Versicherung partizipieren können: So braucht ein verheirateter Beamter mit Kindern sich selbst nur zu 30 Prozent, die Ehefrau und die Kinder jeweils nur zu 20 Prozent privat zu versichern, der Rest der Krankheitskosten wird über die Beihilfen des Staates, also vom Steuerzahler beglichen! Das ganze System der deutschen Krankenversicherung ist teuer, ineffizient, unklar, vernebelt.

Nehmen wir uns ein Beispiel an den Franzosen. Dort gibt es eine einzige Preisliste für alle Patienten. Der Patient bezahlt direkt und läßt sich anschließend von der Kasse die Kosten zurückerstatten. Er hat somit Einblick in die Krankheitskosten, die er verursacht. Die Selbstbeteiligung ist relativ hoch: So werden jeweils 75 Prozent der Arztkosten und 70 Prozent für Arzneien erstattet. Dafür aber zahlt der Bürger monatlich nur 7,5 Prozent des Einkommens für die Krankenkasse. Hinzu kommt, daß Bedürftige, die weniger als 6.774 Euro im Jahr haben, werdende Mütter und chronisch Kranke eine hundertprozentige  Erstattung bekommen. Durch die relativ hohe Selbstbeteiligung ist der französische Bürger interessiert, möglichst gesund zu leben. Aber auch diese Kosten lassen sich reduzieren, indem man sich auf freiwilliger Basis zusätzlich privat versichert.

Sofia Lach, Köln

 

 

Rücksichtslose Krankenversicherte

Dieter Stein beklagt die Kostenspirale im Gesundheitswesen, für die er vor allem die Überalterung und die kostenintensiven medizinischen Neuerungen verantwortlich macht. Um die „aus dem Ruder laufenden Kosten“ in den Griff zu bekommen, empfiehlt er zuallererst „Transparenz“ und „Verhaltensänderung“ der Patienten. Letzteres ist tatsächlich der Schlüssel, denn die eigentliche Ursache für das ganze Desaster ist der rücksichtslose Umgang der Krankenversicherten mit ihrer eigenen Gesundheit.

Dr. med. Bonifaz Ullrich, lieskastel

 

 

Achtzehnmal im Jahr zum Arzt

Bereits vor Jahren gab es in der KV Hessen Aufstellungen über die von den Patienten verursachten Einzelkosten. Hier konnte der Patient detailliert ersehen, welche Einzelkosten er verursachte. Nach einiger Zeit wurde dies von der KV eingestellt, weil sich kaum Patienten dafür interessierten! In meiner Praxis für Allgemeinmedizin erlebe ich genau dasselbe. Vorherrschende Meinung ist: Ich zahle so viel, warum wollen Sie, lieber Doktor, gerade bei mir sparen?!

Es gibt meines Erachtens nur einen Weg, um aus der Kostenspirale herauszukommen: Jeder Kontakt zwischen Arzt und Patient, jede medizinische Inanspruchnahme, etwa jedes Röntgenbild, muß vom Patienten extra bezahlt werden. Jeder Arztbesuch muß mit fünf Euro sofort bezahlt werden, und dies ohne Ausnahme, also auch für sozial Schwache, Asylanten, Sozialhilfeempfänger. Dies wird so ähnlich in Frankreich seit Jahren praktiziert. Das ist auch der Grund, warum der durchschnittliche Franzose sechsmal im Jahr zum Arzt geht, der durchschnittliche Deutsche achtzehnmal!

Dr. med. Klaus Haas, Rosengarten

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen