© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Das Märchen vom Fachkräftemangel
DIW-Studie: Frisiert für die Zuwanderungslobby
Jörg Fischer

Wenn Claudia Roth von den Grünen eine halbe Million Zuwanderer pro Jahr fordert, dann nimmt das kaum jemand ernst. Wenn ein deutscher Wirtschaftsprofessor hingegen das gleiche verlangt, dann hat das sofort ein ganz anderes Gewicht: „Wir brauchen dringend Arbeitskräfte und Zuwanderer aus dem Ausland – und zwar mindestens netto 500.000 mehr Menschen pro Jahr, um unsere Wirtschaftskraft dauerhaft zu sichern“, behauptete Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Anfang September im Hamburger Abendblatt. Schon 2015 fehlten angeblich bereits drei Millionen Arbeitskräfte, so der frühere Berater von Gerhard Schröder und Wolfgang Clement.

Pikanterweise kamen Zimmermanns Fachleute nun im aktuellen DIW-Wochenbericht 46/10 zu einem ganz anderen Ergebnis. „Vor einigen Jahren hat man darüber geklagt, daß Deutschland international nicht wettbewerbsfähig sei. Das hat sich als Fata Morgana erwiesen. Jetzt wird darüber geklagt, daß in Deutschland die Fachkräfte fehlen. Da ist heute genausowenig dran“, erklärt Karl Brenke, Autor der Studie und wissenschaftlicher Referent im DIW-Vorstand. „Ich sehe, daß wir gerade im naturwissenschaftlich-technischen Bereich und im Ingenieurswesen in einem Maße ausbilden, daß wir in kurzer Zeit die Studienabsolventen gar nicht auf dem deutschen Arbeitsmarkt unterbringen werden. Der Effekt könnte sogar sein, daß qualifizierte Fachkräfte vermehrt aus Deutschland abwandern werden“, prognostiziert Brenke.

Spiegel online berichtete Anfang vergangener Woche vorab über die brisanten Aussagen des DIW-Papiers – das daraufhin zurückgezogen und erst am Donnerstag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Doch da kursierten die der Zuwanderungslobby unangenehmen Aussagen schon im Internet. Mit einer „frisierten“ Version machte sich Zimmermann dann vollends lächerlich: „Forscherposse beim DIW – was nicht paßt, wird passend gemacht“, so höhnten Kommentatoren. Aus der ersten Überschrift „Fachkräftemangel in Deutschland: eine Fata Morgana“ wurde in der gesäuberten Variante „Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht“. Auch an anderen Stellen wurde so in Brenkes Text eingegriffen, daß Zimmermanns These vom Fachkräftemangel ab 2015 nicht völlig absurd erscheint.

Lohnentwicklung deutet nicht auf Fachkräftemangel

Folgende Aussage durfte bleiben: „Ein Indikator für Knappheiten auf den Märkten sind die Preise. Was für die Gütermärkte gilt, ist auch beim Arbeitsmarkt der Fall: Hier sind es die Löhne statt der Preise. Gäbe es also einen Fachkräftemangel, müßte er sich bei der Lohnentwicklung zeigen.“ Doch die sind real faktisch konstant geblieben. Folgende erläuternde Sätze wurden hingegen ganz gestrichen: „Einen Fachkräftemangel kann es im streng ökonomischen Sinne gar nicht geben, sondern nur eine mehr oder minder große Knappheit an Arbeitskräften, so daß sich zumindest in der Theorie die Löhne nach der jeweiligen Lage am Arbeitsmarkt richten“, hieß es in der Ursprungsfassung.

Getroffene Lohnvereinbarungen seien „Ausdruck der Verhandlungsmacht der beteiligten Tarifpartner, wobei generell die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer um so größer ist, je knapper das Arbeitskräfteangebot ist“. Die Löhne hochqualifizierter Ingenieure würden ohnehin oft individuell vereinbart: „Im Falle ausgeprägter Knappheit seiner Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt könnte also ein Arbeitnehmer unmittelbar eine Entgelterhöhung verlangen. Letztlich geht es also nicht um einen Mangel an Arbeitskräften, sondern um die Frage der Entlohnung.“

Oder anders gesagt: Wenn der Fokus des Sozialneides sich auf die Millionengehälter der Dax-Vorstände richtet, argumentieren die kritisierten Manager gern mit den Bezügen in den USA und damit, daß sie dort im Zweifel viel mehr verdienen könnten. Warum soll das nicht analog auch für technisches Fachpersonal gelten?

„Doch nicht nur die Lohnentwicklung, auch die Arbeitsmarktsituation an sich weist zur Zeit nicht auf einen deutlichen Fachkräftemangel hin. So hat sich in den meisten technisch-naturwissenschaftlichen Berufen die Arbeitsmarktsituation seit 2008 verschlechtert“, muß auch Zimmermann angesichts der Weltfinanzkrise zugestehen. „Bei Ingenieuren und Facharbeitern ist die Zahl der Arbeitslosen derzeit höher als vor der Krise. Ebenso haben wir weniger offene Stellen als vor der Krise. In den Fächern wie Maschinenbau und Verfahrenstechnik haben wir zur Zeit genauso viele Studenten wie sozialversicherungspflichtig Beschäftigte“, erklärt Brenke. „Wir können nicht ausschließen, daß wir in manchen Branchen eine Fachkräfteschwemme haben werden. Man kann gegenwärtig nur wenige Bereiche identifizieren, wo es an Fachkräften mangelt.“ Nur bei Medizinern etwa sei das Angebot wirklich knapp. Auch die deutsche Einwanderungspolitik und Kanäle wie Familiennachzug werden vom DIW kritisiert: „Die Zuwanderung findet weitgehend ungesteuert statt und begünstigt Geringqualifizierte.“ Zu Jahresbeginn wisse „de facto niemand, wie viele Zuwanderer mit welchen Qualifikationen und welchen Integrationsperspektiven im Jahresverlauf einreisen werden“.

Die Studie  „Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht“ findet sich im DIW-Wochenbericht 46/10.  www.diw.de

Foto: Chemikant im Bayer Industriepark Brunsbüttel: Weniger offene Stellen als vor der Weltfinanzkrise

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