© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Asiatische Therapie für den Geist von Helsinki
OSZE: Erstes Gipfeltre­ en nach elf Jahren in Kasachstan im Rahmen veränderter geopolitischer Realitäten
Michael Paulwitz

Für Kasachstan ist es der prestigeträchtigste Erfolg seiner 19jährigen Unabhängigkeit: Elf Jahre nach ihrem letzten Treffen kommen in Astana über vierzig Regierungschefs der Staaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa am 1. und 2. Dezember zum ersten OSZE-Gipfel im „Jahrhundert Asiens“ zusammen.

Die Krisenherde im Kaukasus, im benachbarten Kirgisistan und in Afghanistan werden ein Schwerpunkt der Beratungen sein. Dabei hat Präsident Nasarbajew das Ziel ausgegeben, der OSZE neue Dynamik einzuhauchen. Man solle das Engagement innerhalb bestehender Mandate ausweiten, so in Afghanistan, und sich verstärkt mit der gemeinsamen Abwehr von internationalem Drogenhandel, organisierter Kriminalität und Terrorismus befassen.

Aus Nasarbajews Anspruch, den in die Jahre gekommenen „Geist von Helsinki“ mit einer „asiatischen Krisentherapie“ wiederzubeleben, spricht das gewachsene Selbstbewußtsein der asiatischen Welt. Tatsächlich wird die auf dem Astana-Gipfel vorgesehene feierliche Bestätigung der Grundsätze der Schlußakte von Helsinki nicht überdecken können, daß das Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen durch die Kriege und Unabhängigkeitserklärungen in Kosovo und Südossetien erheblich ramponiert wurde, während die entgegen dem Prinzip der Nichteinmischung erfolgte Fixierung der OSZE-Aktivitäten der letzten zwei Jahrzehnte auf Wahlüberwachung und Kritik an Demokratiedefiziten in den mittel- und osteuropäischen Ländern zu fruchtlosen Blockaden geführt hat.

Auch als OSZE-Vorsitzende reagiert Kasachstan noch gereizt auf Vorwürfe westlicher Medien wegen Einschränkungen der Pressefreiheit. Freilich weiß man in Astana, daß die eigene Position als Rohstoff- und Energielieferant schwerer wiegt. Der Westen könne „niemanden zu etwas zwingen oder belehren“, bringt ein russischer Analytiker die Situation nach der von ihm konstatierten Ablösung der „amerikanischen“ durch die „asiatische“ Epoche auf den Punkt. Kasachstans Geschick, in der Rolle des Mittlers zwischen Moskau, Washington und Peking den „richtigen Ton“ zu treffen, sei ein Vorbild für Rußland. Moskau unterstützt die kasachischen Bestrebungen.

Rascher Wandel ist von einer auf Konsens ausgelegten Organisation mit 56 Mitgliedstaaten freilich nicht zu erwarten. Gleichwohl werden insbesondere die westlichen Industriemächte nicht umhinkönnen, sich den veränderten geopolitischen Realitäten zu stellen.

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