© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/10 26. November 2010

Ihr Kinderlein bleibet
Ausländerrecht: Die Ausweitung der Duldung hat die Härtefälle erst geschaffen
Christian Vollradt

Wer dieser Tage die Äußerungen einiger Politiker vernimmt oder manche Medienberichte aufmerksam liest, den muß es frösteln: In Deutschland scheint eine eiskalte Bürokratie ohne Rücksicht auf menschliche Schicksale zu herrschen, die unter pedantischer Befolgung lebensfremder Normen ausländische Jugendliche gnadenlos abschiebt. Vorrangig solche, so könnte man meinen, die in der Schule mit Spitzenleistungen hervortraten oder sich als Stütze des kommunalen Vereinswesens entpuppt haben.

Nur dem Einsatz von Härtefall-Kommissionen ist es zu verdanken, daß eine aus Afrika stammende Zwanzigjährige mit Einser-Abitur in Hamburg bleiben und ein Achtzehnjähriger Kosovare weiterhin in Niedersachsen Handball spielen darf. Ihrer beider Geschichte wurde herauf- und heruntererzählt, gesendet, zitiert, so daß schließlich der Horror-Eindruck entstehen muß, als befördere der deutsche Staat eine künftige Summa-cum-laude-Elite statt in Hörsäle lieber in Aschiebehaft.

In trauter Einigkeit haben die liberale Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und die christdemokratische Integrationsbeauftragte Maria Böhmer einen Abschiebestopp für „gut integrierte“ ausländische Kinder und Jugendliche sowie eine Änderung des Ausländerrechts gefordert. Unabhängig von Herkunft oder Status sollte „jeder, der sich anstrengt, willkommen sein“, teilte Frau Böhmer mit. Und: Die Kinder sollten nicht mehr für „Versäumnisse“ ihrer Eltern verantwortlich gemacht werden.

Schließlich wurde selbst in den wohlmeinenden Artikeln über die Abiturientin aus Ghana oder den Handballspieler vom Amselfeld nicht verschwiegen, daß hinsichtlich ihres Aufenthaltes nicht alles mit rechten Dingen zuging: Im ersten Fall war der Familiennachzug illegal, weil die schon in Deutschland lebende Mutter nicht allein für den Lebensunterhalt sorgen konnte. Im zweiten ließ sich die Herkunft des jungen Mannes nicht nachweisen, weil Dokumente „fehlten“. Keine Seltenheit, denn die Mehrzahl der in Deutschland lediglich Geduldeten verfügt über eine „ungeklärte“ Herkunft; hauptsächlich weil die Pässe bewußt vernichtet werden.

Den Forderungen nach einem besseren Schutz von Jugendlichen mit „ungesichertem Aufenthaltsstatus“ vor Abschiebung sind die Innenminister bei ihrer jüngsten Zusammenkunft weitgehend nachgekommen. Für junge Ausländer mit positivem Integrationsprofil sei eine „echte Bleibeperspektive“ jetzt möglich, freute sich Hamburgs Innensenator Heino Vahldieck (CDU). Auf einen Nachweis, über wie vielen Musterschülern das „Damoklesschwert der Abschiebung“ tatsächlich schwebt, hat man verzichtet. Unerwähnt blieben jedenfalls in diesem Zusammenhang die Gegenbeispiele.

Etwa die Kinder langjährig Geduldeter, die nur noch mit einem kostenintensiven sonderpädagogischen Förderbedarf der deutschen Schulpflicht nachkommen. Es gibt sie, davon können viele Lehrer ein Lied singen. Und es gibt jenen Sproß einer Flüchtlingsfamilie aus dem Kosovo, der zur Zeit in einer niedersächsischen Stadt vor Gericht steht, weil er seine Ex-Freundin fast getötet und deren fünfjährigen Sohn in den Rollstuhl befördert haben soll. Der Verdächtige setzte sich nach der Tat übrigens dorthin ab, wohin ihn die deutschen Ausländerbehörden zuvor nicht abschieben konnten. Keine Frage, dies ist ein Einzelfall – genauso wie manches positive Beispiel eben auch.

Natürlich ist es ökonomisch nicht sehr sinnvoll, Kinder auf Kosten der deutschen Steuerzahler jahrelang zu beschulen, um sie nach Ende der Ausbildung außer Landes zu weisen. Aber die Ursache für den Mißstand liegt in der seit Jahrzehnten praktizierten Duldungsverlängerung, mit der jene Härtefälle erst geschaffen werden, die man nun zu lösen beabsichtigt. Die Mehrheit derjenigen, die als Flüchtlinge ins Land kommen, wären eigentlich schon unmittelbar nach ihrer Ankunft wieder zur Ausreise verpflichtet.

Der Bremer Politikwissenschaftler Stefan Luft zeichnete jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ernüchterndes Lagebild: Wer lange genug in Deutschland – legal oder illegal – gelebt hat, kann praktisch nicht mehr abgeschoben werden, selbst wenn er die gesetzlichen Richtlinien für einen sicheren Aufenthaltsstatus nicht erfüllt, weil er zum Beispiel nicht für den eigenen Lebensunterhalt sorgen kann. Schon ohne die von den Innenministern geplanten Änderungen laufen sämtliche Alt- oder Härtefallregelungen auf eine dauerhafte Legalisierung hinaus, so Luft. Hinzu kommt, daß europäische Bestimmungen und ein immer raumgreifenderes Völkerrecht die nationalen Instanzen längst in ihrer Handlungsfreiheit einschränken. „Die Zuwanderung wird so immer mehr dem Willen des Gesetzgebers – und damit letztlich dem Volk als Souverän – sowie rechtsstaatlichen Verfahren entzogen“, resümiert der Wissenschaftler.

Ein europäischer Staat, der sich auf seine christlich-abendländische Tradition besinnt und in dem trotz aller Krisen ein hohes Wohlstandsniveau herrscht, kann und sollte sich die Aufnahme einer begrenzten Zahl von Flüchtlingen, die aufgrund einer konkreten Bedrohungssituation Schutz begehren, leisten. Aber solch ein Gastrecht ist längst zum Dauerzustand geworden, der nichts mehr mit humanitärer Ersthilfe zu tun hat.

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