© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Der Zweifel am Endpunkt findet kein Ende
Stefan Rehder problematisiert die Hirntod-Festlegung und ihre Bedeutung für Organtransplantationen
Mathias von Gersdorff

Die neu entflammende Debatte um den Hirntod-Begriff findet zwar noch in den Feuilletons der Tageszeitungen statt, doch sie wird in den nächsten Monaten sicherlich immer mehr Schlagzeilen im politischen Teil bekommen. Hintergrund ist der chronische Mangel an Organen, die für Transplantationen zur Verfügung stehen.

Zur Erinnerung: 1997 trat das deutsche Transplantationsgesetz in Kraft. Dort wurde als Kriterium für die Entnahme von Organen eines Sterbenden der sogenannte Hirntod-Begriff festgelegt. Nach diesem dürfen Organe entnommen werden, wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert und somit der Weg hin zum Tod irreversibel ist. Allerdings gilt die Einschränkung, daß der Organgeber der Organentnahme vorher zugestimmt hat. Ansonsten besteht entsprechend dem geltenden Gesetz keine Berechtigung (JF 29/10).

Nun, obwohl eine große Mehrheit von 68 Prozent der Deutschen Organspenden für etwas grundsätzlich Positives hält, füllen nur 16 Prozent einen Organspenderausweis aus und erklären damit ausdrücklich, daß man ihnen im Falle des Hirntodes Organe entnehmen kann. Das hat zur Folge, daß nur etwa zehn Prozent der Patienten, die ein fremdes Organ benötigen, eines bekommen. Aufgrund der demographischen Entwicklung und der steigenden Lebenserwartung ist abzusehen, daß sich das Verhältnis weiter verschlechtern wird. Aus diesem Grund möchten manche Politiker, vor allem Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), aber auch Ärzteverbände, wie beispielsweise die Bayerische Landesärztekammer, die sogenannte Widerspruchslösung einführen: Nur bei ausdrücklichem Widerspruch des potentiellen Hirntoten, dürfen Organe nicht entnommen werden.

Das ist schon polemisch genug. Doch es kommt hinzu, daß immer mehr Bedenken am Begriff des Hirntodes geäußert werden. Immer mehr Ärzte und Wissenschaftler meinen, der Hirntote sei gar nicht tot und würde erst bei der Entnahme von lebensnotwendigen Organen, wie etwa dem Herz, getötet werden. An dieser Frage setzt das Buch von Stefan Rehder an. Er selber schreibt in der Einführung: „Es ist ein vorsorglicher Beitrag zu einer Debatte, die, wenn nicht alles täuscht, kurz vor ihrer Wiederbelebung steht. Aus gutem Grund: Denn daß der Hirntod nicht nur der Tod eines Organs, des Gehirns, ist, sondern auch mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden kann, daran gab und gibt es Zweifel.“

Solche Zweifel hat die US-Amerikanische „President’s Commission on Bioethics“ im Mutterland der Hirntoddefinition erhoben. Diese wurde Anfang der siebziger Jahre entwickelt, um überhaupt Transplantationen zu ermöglichen. Es bestand also ein ganz konkretes Interesse, eine Definition des Todes zu entwickeln, die Transplantationen überhaupt möglich macht. Der Hirntod ist nämlich ungefähr der letzte Zeitpunkt, an dem man Organe entnehmen kann, die überhaupt noch für Transplantationen tauglich sind, denn die Zersetzung des menschlichen Körpers findet außerordentlich schnell statt. In einem langen Artikel vom 14. Oktober dieses Jahres fragte die Frankfurter Allgemeine Zeitung angesichts der zunehmenden Zweifel an der Hirntoddefinition, ob die Organspende noch zu retten sei.

Stefan Rehder bringt alle Fakten, analysiert sämtliche Positionen zum Thema und läßt auch die Befürworter zu Wort kommen. Im ersten Kapitel schreibt er: „Dabei rechnet sich der Autor, der die Debatte um den Hirntod als sicheres Todeszeichen seit der Arbeit an dem 1997 in Kraft getretenen Transplantationsgesetz verfolgt, selbst weder den Befürwortern noch den Gegnern des Hirntodes zu. In diesem Buch wird statt dessen die Position vertreten, daß die Frage, ob der Hirntod auch der Tod des Menschen sei, eine jener wenigen Fragen ist, die sich aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht beantworten lassen.“

Der Autor begnügt sich aber nicht mit der ethischen Seite des Themas, sondern läßt die Diskussion seit Anbeginn der Definition des Hirntodes Revue passieren. Zunehmend entsteht beim Lesen in einem das beklemmende Gefühl, daß aus wissenschaftlicher und medizinischer Sicht die Gleichung „Hirntod ist Tod“ unbrauchbar ist. Offenbar war hier der Wunsch der Vater des Gedankens. Im letzten Kapitel vor dem Anhang kommt Rehder zum Ergebnis, „daß dem für hirntot erklärten Patienten so lange keine lebensnotwendigen Organe mehr entnommen werden dürfen, wie nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, daß der für hirntot erklärte Patient auch tatsächlich tot ist“.

Es wird interessant sein zu beobachten, ob sich die deutschen Politiker in der aufkommenden Debatte nach pragmatischen oder ethischen Kriterien richten werden. Die jüngsten Debatten um Stammzellforschung, Spätabtreibung und Präimplantationsdiagnostik (PID) lassen nichts Gutes ahnen.

 www.bundesaerztekammer.de  www.initiative-kao.de/Hirntod.htm

Stefan Rehder:  Grauzone Hirntod. Organspende verantworten. Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2010, 190 Seiten, gebunden, 22 Euro

Foto: Finale Nullinie: Nach wie vor gilt, daß das Aussetzen des Gehirns einen irreversiblen Weg hin zum Tod bedeutet

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