© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Ostpreußisches Echolot
Eine Welt erschaffen
Manfred Lewald

Aufgrund seiner das Hagiographische nicht scheuenden Biographie Marion Gräfin Dönhoffs (JF 43/08) gilt Vielschreiber Klaus Harpprecht offenbar als Fachmann für die Geschichte und Kultur Ostpreußens. So warb der weit links stehende Frankfurter Eichborn Verlag, wo Harpprecht die von Hans Magnus Enzensberger begründete „Andere Bibliothek“ herausgibt, für Liedtkes Ostpreußenminiatur mit seiner Lobeshymne, der Autor habe das „schönste Ziel aller Literatur“ erreicht, „eine Welt zu erschaffen“. Das klingt wie immer bei diesem Laudator leicht kitschig, trifft aber ausnahmsweise ins Schwarze.

Denn Klaus-Jürgen Liedtke, Jahrgang 1950, Lyriker und Übersetzer, Celan-Preisträger, vergegenwärtigt Vergangenheit ähnlich eindrucksvoll-vielschichtig wie Walter Kempowskis „Echolot“. Mit dem markanten Unterschied, daß Liedtke die gesammelten Stimmen nicht in einer Zitatencollage arrangiert, sondern als „allwissender Erzähler“ aufbereitet, der sich allerdings alle Mühe gibt, das getreue Sprachrohr seiner „Helden“ zu sein. Die agieren in Neu-Kermuschienen, einem nur mit der Lupe aufzufindenden Weiler südlich des Landstädtchens Darkehmen/Angerapp. Durchsetzt mit Dialektvokabeln holt das „Flüchtlingskind“ Liedtke die Welt seiner Vorfahren in einer bewundernswert dichten, lakonischen Beschreibung ihres Alltags in unsere Gegenwart zurück.

Von 1987 bis 2007 schrieb er auf, was der immer leiser werdende Chor der Überlebenden über diesen Mikrokosmos des ländlichen Ostpreußen noch erinnerte. Beispielsweise die vielfach gebrochene Form, mit der sich die „große Politik“ ins Dörfliche umsetzte. Da weint jemand aufrichtig über den Tod Stresemanns und gilt den deutschnationalen Bauern hinfort als „links“. Diese Bauern halten auf Distanz zur aufstrebenden NS-Partei, für die sich Volkschulpauker und andere halbkomische Figuren stark machen.

Mit der Verlebendigung solcher Mischregionen privaten und öffentlichen Bewußtseins, im Ineinander des Provinziellen und Nationalen, gelingen Liedtke die stärksten Momente in einem Text, der es ohnehin mühelos mit „klassischen“ Stücken der Ostpreußenliteratur nach 1945 aufnimmt, also mit Hans Graf Lehndorff, Marianne Peyinghaus oder Michael Wieck.

Klaus-Jürgen Liedtke: Die versunkene Welt. Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2009, gebunden, 425 Seiten, Abbildungen, 32 Euro

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