© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Werde, der du bist
Dialogische Vernunft und christliche Erfahrung: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz zum 65. Geburtstag
Harald Seubert

Eine der hervorragenden christlichen Denkerinnen unserer Zeit, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, vollendet am 23. November ihr 65. Lebensjahr. Der akademische Lebensweg dieser ungewöhnlichen, in Oberwappenöst in der Oberpfalz geborenen  Philosophin begann in München und Heidelberg. Bei dem Doyen der Renaissanceforschung Ernesto Grassi wurde sie 1970 promoviert, 1979 habilitierte sie sich mit einem Thema zur italienischen Renaissance.

Der Umkreis des Guardini-Lehrstuhls in München ist für ihre Prägung besonders wichtig. Verschiedene akademische Stationen in Tübingen, Bayreuth, Eichstätt schließen sich an, bevor sie die Philosophieprofessur an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten in Oberschwaben übernimmt und ab 1993 als Ordinaria für Religionsphilosophie und Vergleichende Religionswissenschaften an der Technischen Universität Dresden lehrt.

Mit der Souveränität des tiefen Geistes ist Barbara Gerl-Falkovitz zudem in vielen maßgeblichen Institutionen tätig: unter anderem im Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Institutes für Jugend und Gesellschaft und in der Boschstiftung, sie berät Bischofskonferenzen im In- und Ausland, und sie ist Mitherausgeberin der katholischen Zeitschrift Communio. Äußere Gestalt des Geistes und seine innere Formung, Vita activa und Vita contemplativa, sind bei ihr eine klug artikulierte Einheit.

Das denkerische Spektrum von Barbara Gerl-Falkovitz umfaßt neben Antike und Renaissance die klassische Philosophie zwischen Hegel und Husserl; Schwerpunkte liegen im Zwischenbereich von Philosophie und Theologie. Dabei bilden Romano Guardinis Philosophie der Personalität und des dialogischen Zusammenhangs von Mensch und Gott neben Edith Steins ingeniöser, in Leben und Tod bezeugter Bestimmung des Zusammenhangs von Glaube und Vernunft die Angelpunkte eines profilierten eigenständigen Denkens.

Von diesem Fundament her dringt Barbara Gerl-Falkovitz in existentielle Fragen der Gegenwartsphilosophie ein. Sie scheut nicht die Zwiesprache mit komplexen Philosophen der Spätmoderne wie Derrida, Lyotard, vor allem Lévinas, die sie vor dem Horizont der abendländischen Tradition deutet. Dem Phänomen der Gabe gelten tiefschürfende Arbeiten der letzten Zeit; über Vergebung und Verzeihung als Grenze und Beweisgrund jeder Moralphilosophie hat sie 2007 eine auch literarisch beeindruckende Monographie vorgelegt. Sie vertritt eine phänomenologisch präzise, geschichtlich geweitete Religionsphilosophie, in der Glaube und Vernunft einander wechselseitig inspirieren: nicht in Abgrenzung, sondern in Weitung der Horizonte.

Nicht zuletzt entwirft sie das Profil einer Anthropologie des Weiblichen, jenseits von Gender-Ideologien und zugleich in einer Modernität, die jeden Rückfall in alte Rollenklischees hinter sich läßt. Sie weist den Zeitgeist des Genderwahns in die Schranken, indem sie ihm eine funkelnde Ontologie der dualen Menschlichkeit entgegensetzt. Daß sich das Bild Gottes unterschiedlich, aber gleichrangig in Mann und Frau manifestiert, ist dabei die Grundeinsicht.

Guardini und Edith Stein hat sie bahnbrechende Monographien gewidmet. Die Edith-Stein-Gesamtausgabe und jüngst die Erschließung des Werkes von Gertrud von le Fort wären ohne Barbara Gerl-Falkovitz nicht denkbar. Als umsichtige versierte Editorin opfert sie viel Zeit der Rettung und Weitergabe von Zeugnissen unabhängigen Denkens und Glaubens im 20. Jahrhundert, wie jüngst dem großartigen Briefwechsel zwischen Guardini und seinem Lebensfreund Josef Weiger.

An ihrem Lehrstuhl in Dresden hat Gerl-Falkovitz eine geistige Schule in Freiheit, Weite und tiefer menschlicher Zugewandtheit etabliert, deren besonderer Geist sich dem aufmerksamen Gast sofort mitteilt. Eine Reihe internationaler Tagungen über die geistige Physiognomie Europas haben in den letzten Jahren internationale Aufmerksamkeit erregt. Wie die Gedächtnis-
orte Europas die in Technokratie und Verwaltung erstarrende Europamüdigkeit aufbrechen könnten, hat sie erst jüngst in einer fulminanten Rede in der Sächsischen Staatskanzlei gezeigt.

Auch das Bestehen dieses für die Technische Universität und die Kultur der Stadt bedeutenden Lehrstuhls nach der anstehenden Emeritierung ist nicht gesichert – jedenfalls nicht in seinem heutigen Profil und Karat. Gerl-Falkovitz’ Mitarbeiter und Studenten haben im Anschluß an Tschechow vom „Kirschgarten“ gesprochen und sich in bemerkenswerter Weise für seine Erhaltung engagiert: Reverenz vor der Meisterin und hoffentlich zukunftsweisendes Fanal.

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ist in persona eine bedeutende Denkerin, Forscherin und Gelehrte, zu tiefer innerer Versenkung fähig und zugleich dem Leben sinnlich zugewandt, von einer strahlenden Jugendlichkeit und unermüdlichen Neugierde, von einer Leistungsfähigkeit, die nur zu erreichen ist, wenn das Leben ungeteilt und eins ist.

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