© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

Pankraz,
Graf Tolstoi und der Zug in den Tod

Es gibt etwas, das ich noch mehr als das Gute liebe: den Ruhm.“ So steht es 1856 im Tagebuch des jungen Grafen Leo Tolstoi, der gerade als Fähnrich aus dem Krimkrieg auf sein Gut Jasnaja Poljana bei Tula heimgekehrt ist und nun seine Fronterlebnisse in einige literarische Skizzen gießt, die „Sewastopoler Erzählungen“. Das lesende Publikum in Moskau und St. Petersburg ist begeistert. Die Tür zum Ruhm für Tolstoi reißt tatsächlich sperrangelweit auf, und sie schließt sich nie wieder, bis zu seinem Tod am 20. November 1910 nicht.

Da aber ist der Zweiundachtzigjährige seines inzwischen riesigen Weltruhms längst überdrüssig, haßt ihn, sucht ihm mit allen Mitteln zu entkommen. „Am Ende meines Lebens fürchte ich nur noch den Nobelpreis und meine Frau“,  hatte er zuletzt immer wieder gestöhnt. Den Nobelpreis konnte er mit großer Mühe gerade noch abwenden, doch seiner Frau Sofja, der tüchtigen Ruhmverwalterin, entkam er nicht.

Ihn befällt Panik. Zusammen mit seinem langjährigen Arzt und Vertrauten Wladimir Tschertkow und seiner jüngsten Tochter Alexandra flüchtet er eines Morgens blindlings in Richtung Süden. Wo genau er hin will, weiß er nicht. Er sitzt in eiskalten, zugigen Zugabteilen und holt sich eine Lungenentzündung. An einer lausigen Bahnstation namens Astapowo irgendwo in der Steppe ist Schluß. Man trägt den Sterbenden in den Wartesaal – und dort warten dichtgeballt bereits die Reporter und andere Neugierige, um dem Sterben des berühmten Mannes zuzusehen.

Man hatte ihn keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Tolstoi war ein Medienereignis avant la lettre, ein ungeheurer „Knüller“ in jedem Belang, Engel und schwarzes Ungeheuer in einem, Repräsentant der feinsten Adelskreise Rußlands und gleichzeitig entschiedenster Sozialrevolutionär, Wüstling und Asket, Frauenliebling und Frauenhasser, vor allem aber einer  der  größten Dichter, Epiker aller Zeiten, in seinem Rang völlig unbestritten, an sich nur noch mit Homer vergleichbar.

Alle bewunderten ihn, keiner haßte ihn, aber niemand liebte ihn wirklich, außer vielleicht seine Frau Sofja, die zu ihm paßte wie die eine Waagschale zur anderen. Sie war achtzehn Jahre jünger als er und ihm sozial ebenbürtig, stammte – übrigens von deutschen Ahnen – aus altem, der Zarenfamilie eng verbundenem Militäradel. Sie gebar ihm dreizehn Kinder, von denen acht das Erwachsenenalter erreichten. Sie verwaltete höchst effizient das Gut Jasnaja Poljana, und sie sorgte dafür, daß Tolstois Manuskripte ordentlich und lesbar zum Drucker kamen und reell abgerechnet wurden.

„Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“, die beiden Monumentalromane, die Tolstoi unsterblich machten, wären ohne die treue Sekretärinnenarbeit Sofjas nicht möglich gewesen. Lew und Sofja waren über Jahrzehnte hinweg, wie es so schön heißt, ein Herz und eine Seele. Die vielberedete Entfremdung und die historischen Zimmerschlachten zwischen den beiden setzten erst mit Lews „Bekehrung“ in den achtziger Jahren ein. Der Dichter wurde von da ab zum „Bauernapostel“, der die Welt im Namen Gottes von Grund auf umwälzen wollte, aber Sofja verweigerte sich, legte sich quer.

Lew ging fortan nur noch im Bauernkittel, predigte die Abschaffung des Staates, übte „gewaltlosen Widerstand“ gegen die bürgerliche Ordnung, bekämpfte die „Wollust“ in all ihren Formen, gewöhnte sich das Rauchen ab, trank keinen Alkohol mehr, wurde zum zeternden Vegetarier. Er erlernte das Schuhmacherhandwerk und arbeitete zusammen mit den Bauern auf dem Feld, denn jeder sollte, wie es in der Bibel stand, sein Brot im Schweiße seines Angesichts selbst verdienen.

Sofja war mit alledem nicht einverstanden. Während Lew auf dem Feld Rüben zog (und dabei ständig von Bewunderern und internationalen Reportern begleitet wurde), hatte sie die größte Mühe, Jasnaja Poljana in Schuß zu halten. Ferner mußte sie sich einer Menge zuziehender „Tolstojaner“ erwehren, die es nicht zuletzt auf die äußerst lukrativen Buchrechte für Lews Werke abgesehen hatten. Allerdings war es ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Bald kamen Krieg und Revolution, und die Bolschewiken ebneten nach 1917 sowieso alles ein. Sofja starb 1919.

Jasnaja Poljana ist heute russisches Nationalheiligtum und Touristenattraktion, doch gewiß nicht des Bauernapostels und Sozialrevolutionärs, einzig des großen Schriftstellers Lew Tolstoi wegen. Dieser hat auch nach seiner „Bekehrung“ weiter größte Literatur geschrieben, die Novelle „Der Tod des Iwan Iljitsch“ etwa, das düstere Drama „Die Macht der Finsternis“, die ergreifende Geschichte „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ von 1885. Kein Geringerer als James Joyce hat diese als „die beste Geschichte der Weltliteratur“ bezeichnet.

Hier, wie in „Krieg und Frieden“, wie in „Anna Karenina“, ja schon wie in den „Sewastopoler Erzählungen“ des jungen, ruhmbegierigen Fähnrichs Tolstoi, waltet ein Gesetz, das der spätere Gotteskrieger und Sozialpolitiker in der tagtäglichen Realität des Lebens wohl vergeblich suchte: die Einheit von Sehnsucht und Wirklichkeit, von Wille und Tat, wie sie eben nur in der Sprache gelingen kann. Tolstois dichterisches Geheimnis bestand darin, daß er seine Sprache nie selbstreflexiv umherirren ließ, daß er sie vielmehr stets zum untrüglichen Spiegel der wahren Ereignisse zu machen suchte und sie so in einmaliger Weise zur Wahrheit sui generis gerinnen ließ.

Als er im Oktober 1910 aus Jasnaja Poljana aufbrach, um in zugigen Zugabteilen durch Rußland zu kreuzen und sich dabei im sprichwörtlichsten Sinne den Tod holte, war das letztlich doch keine „Flucht“ (vor Sofjas Lebenstüchtigkeit oder vor der Zudringlichkeit der Reporter), sondern innere Notwendigkeit. Am Grund seiner Seele mag ihm „Anna Karenina“ gegenwärtig gewesen sein, wo ja die „Zugmetapher“ eine so wichtige Rolle spielt. „Vergiß nicht, du bist immer in Bewegung“, heißt es dort.  „Du sitzt nicht wirklich zu Hause in deinem Haus, du sitzt in einem Zug, in einem Zug, der dich zum Tode bringt.“

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