© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/10 19. November 2010

„Sterben stört die Party“
Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag – Es ist November und der Tod regiert die Stunde
Moritz Schwarz

Herr Klonovsky, haben Sie Angst vor dem Tod?

Klonovsky: Nein. Eher vorm Sterben, das kann ja sehr unangenehm werden.

„Zum Tod immer!“ war Ihre begeisterte Antwort auf diese Interviewanfrage.

Klonovsky: Worüber soll man denn sonst reden? Der Tod gibt dem Dasein seine Schwere und zugleich all unsere Bemühungen einer gewissen Lächerlichkeit preis. Alle Sinnfragen haben ihre Ursache im Sterbenmüssen. Ohne Tod keine Metaphysik, keine Religion, keine Kunst. Unsterblichkeit muß ein schrecklich öder Zustand sein. Stellen Sie sich vor, Johannes B. Kerner, Claudia Roth oder Kim Jong-il würden ewig leben. Vielleicht ist die Hölle ja eine unendliche Talkshow.

Das klingt, als freute Sie Ihre Sterblichkeit.

Klonovsky: Es ist gut, daß es irgendwann endet. Ich unterstelle mal, der alte Mensch hat in der Regel auch die Nase voll von seinen Nicht-mehr-Zeitgenossen und ihrem seltsamen Treiben. Und Anpassung würde ihn schließlich noch mehr erniedrigen als das Siechtum.

Aber zugleich fürchten Sie das Sterben.

Klonovsky: Na ja, es ist eben ein Duell, das man nur verlieren kann. Der andere ist ungleich stärker, Mike Tyson wäre ein Chorknabe neben ihm. Man wird wohl eine miserable Figur machen bei der Angelegenheit. Daß man sterben muß, ist eine Binse, jeder weiß das, doch sieht es so aus, daß man es irgendwann erst wirklich „körperlich“ begreifen muß. Das kann in einer Gefahr passieren oder nachts schlaflos im Bett, in einer düsteren Stunde, wo einem die Erkenntnis durch Mark und Bein kriecht, daß dieser Körper tatsächlich einmal sterben und verwesen wird. Und dann kommen diese Stunden immer wieder.

Was meinen Sie mit der Lächerlichkeit, die uns der Tod vor Augen führt?

Klonovsky: Ein endliches Wesen hat drei Alternativen, mit seiner Endlichkeit umzugehen: die Ignoranz, das Lamentieren und die Heiterkeit. Daß der Mensch sterblich ist, egal wie wichtig er sich nimmt, hat ja etwas zutiefst Komisches. Wir kommen auf diesen unscheinbaren Planeten und wissen nicht, woher und warum. Wir leben allzeit sterbend und erfahren nie, was diese ganze Veranstaltung soll und bei wem wir uns bedanken oder beschweren können. Wir studieren das Leben und müssen zur Kenntnis nehmen, daß eine solche Fülle, Vielfalt und Schönheit einfach nur da ist, ohne Sinn, ohne Dauer, einer fatalen Vergänglichkeit überantwortet. Was kann das anderes sein als ein Witz? Subjektiv betrachtet ist der Tod das Ende der ganzen Lachnummer.

Haben Sie schon mal über Selbstmord nachgedacht?

Klonovsky: Ich kann mich nicht erinnern, jemals nicht über Selbstmord nachgedacht zu haben, bis sich erstmals diese Kinderärmchen um meinen Hals legten; dann wußte ich, daß ich eine Pause einzulegen habe. Ein iranischer Regisseur, der Name ist mir entfallen, hat die ultimative Sentenz dazu formuliert: Ohne die ständige Möglichkeit des Selbstmordes hätte er sich längst umgebracht.

Ephraim Kishon fragte mal in einem Interview über die Ehe, ob der Interviewer überhaupt verheiratet sei? Als der verneinte, sagte Kishon: „Was reden Sie überhaupt darüber, dann sind Sie ein Dilettant!“ Sind wir beim Thema Tod nicht alle Dilettanten und sollten also besser schweigen?

Klonovsky: Das nötigt uns dazu, ein paar Differenzierungen vorzunehmen. Heiner Müller hat einmal beschrieben, wie ihm angesichts eines Toten der Gedanke an den eigenen Tod gekommen sei und in Klammern dazugesetzt: „Es gibt keinen anderen.“ Das sehe ich nicht so. Es gibt den Tod naher Menschen, und hier möchte ich aus einem Rest von Aberglauben nicht weitergehen. Gewiß, indem wir ein Kind zeugen, zeugen wir einen Tod. Aber bitte lange nach meinem! Das Schrecklichste ist, wenn der Tod die Reihenfolge verwechselt. Auch die Gattin sollte tunlichst nicht vor mir in die ewigen Jagdgründe eingehen, sondern eine lustige Witwe werden dürfen.

Also Herr Klonovsky, dann sagen Sie uns jetzt: Was kommt „danach“?

Klonovsky: Was soll danach denn kommen? Es kommt doch davor schon genug. Der Tod eröffnet ja erst dieses Davor. Er lehrt, daß man sein Dasein nicht allzusehr verplempere und seinen Lieben alles gebe, damit am Ende zum Schmerz des Scheidenmüssens nicht noch die Reue über Versäumnisse kommt. Mir ist die Idee der Unsterblichkeit der Seele, der Auferstehung und so weiter eine Spur zu egozentrisch. Man muß doch auch mal Platz machen für andere.

Sie glauben an keinerlei Unsterblichkeit?

Klonovsky: Doch, etwa an jene Bachs, Shakespeares, Homers, Heideggers oder Velázquez’. Aber dieses Gremium ist wohl längst vollzählig. Der Mensch ist zu klein geworden, um noch Vertreter dorthin zu entsenden.

Und was bleibt von Ihnen?

Klonovsky: Eine Homepage, auf welcher verirrte Surfer Erbauung und Belehrung finden.

Heinrich Heine klagt in seinem „Lazarus“, der Mensch „fragt beständig – bis man uns mit einer Handvoll Erde endlich stopft die Mäuler. Aber ist das eine Antwort?“ Ist der Tod also eine Enttäuschung?

Klonovsky: Heine beklagt in diesem Gedicht die Ungerechtigkeit des Lebens, also daß der Gerechte das Kreuz trägt und der Schurke auf hohem Roß sitzt. Es gibt die alte Sage, daß Midas den Silenus, den Begleiter des Dionysos, gefangen hatte und von ihm wissen wollte, was wohl für den Menschen das Beste und was das Allervorzüglichste sei. Silen habe geantwortet, erzählt zumindest Aristoteles, das Allervorzüglichste wäre für den Menschen, gar nicht geboren zu werden. Das Nächstbeste jedoch, nachdem er nun mal geboren wurde, baldmöglichst zu sterben. Daraus, daß uns diese Auskunft stark übertrieben erscheint, können wir schließen, daß sich die Zeiten speziell für uns etwas verbessert haben. Aber auch erst seit einem reichlichen halben Jahrhundert und keineswegs mit Garantie für die Zukunft.

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, ist die Antwort Jesu Christi auf den Tod, denn er spricht diesen Satz bei seiner Abschiedsrede an die Jünger, kurz bevor seine Passion beginnt.

Klonovsky: Ich finde die ganze Jesus-Christus-Geschichte und vor allem seine Wirkungsgeschichte viel aufregender und grandioser, wenn er nicht Gottes Sohn war. Aber so oder so: Wir folgen ihm, wenn wir eines Tages dahin gehen, wo schon so viele hingegangen sind.

Gäbe es keinen Gott, keinen Heilsplan, gäbe es keinen Sinn. Dann wäre Altern doch in der Tat bereits gleich Sterben.

Klonovsky: Wie gesagt: Wir sterben gewissermaßen vom ersten Schrei an. Proust hat sterbend die „Recherche“ geschrieben, Wagner sterbend die „Meistersinger“ komponiert, Lance Armstrong ist sterbend hinauf nach L’Alpe d’Huez geschwirrt, und Angelina Jolie trägt sterbend täglich Rouge auf. Was uns an jener finalen Phase des Sterbens, die wir Alter nennen, so sehr irritiert, ist wohl weniger die Todesnähe als der Verfall. Dabei hat der doch den Zweck, das Sterben zu erleichtern. Unsere Gesellschaft ist zu wohlhabend und folglich zu lust-orientiert, um mit dem Alter etwas anfangen zu können, es muß sich deshalb verstecken. „Der jugendliche Körper ist das einzige begehrenswerte Gut, das die Welt je hervorgebracht hat“, schreibt Michel Houellebecq. Ich weiß nicht, wie schlimm das mit dem körperlichen Verfall wird, aber solange das Gehirn funktioniert, ist nichts verloren. Und solange ich noch irgendwo einen Muskel habe, den ich halbwegs schmerzfrei trainieren kann, werde ich ihn traktieren, um meinen Verfall zu verzögern und meinen Appetit zu fördern.

Aber „alle Lust will Ewigkeit“, wie Nietzsche sagt.

Klonovsky: Sie darf wollen, aber sie nicht bekommen. Lust braucht Pausen, sonst bringt sie uns um, und wir wüßten gar nicht, daß es sie gibt. Und ohne Tod wäre alle Lust nichts Besonderes.

Glauben Sie den Atheisten, die sagen, der Tod ist ein biologischer Vorgang, den sie nicht fürchten, weil er natürlich ist?

Klonovsky: Gómez Dávila spricht: „Der moderne Mensch hält den Tod so lange für natürlich, bis er selber an der Reihe ist.“ Dann mag jeder sehen.

Gotik und Barock haben den Tod reflektiert. Können Sie sich vorstellen, der Tod könnte sich auch in unserer Stilepoche niederschlagen?

Klonovsky: Die Todesbezogenheit in der Kunst beider Epochen hat stark mit dem Vanitas-Gedanken zu tun. Im Spätmittelalter tritt ja nach und nach das bürgerliche Individuum aus dem Kollektiv hervor, etwa in Gestalt des Kaufmanns, und in Europa breitet sich ein gewisser Reichtum aus. Der muß kirchlicherseits konterkariert werden mit dem Hinweis, alles Irdische sei eitel. Auf den überbordenden Stilleben der alten holländischen Meister etwa, in denen die wohlhabenden Bürger einer Seefahrernation ihren Besitz feiern, fehlt selten ein Vergänglichkeitssymbol. Und dann erst die Pracht und der Pomp am absolutistischen Hofe! Das schreit nach dem ausgleichenden Hinweis, daß der Herrscher das alles nicht mit ins Grab nehmen kann und daß für ihn wie für den armen Schlucker am Ende die vier letzten Dinge gelten: Tod, Gericht, Hölle oder Auferstehung. In einer Gesellschaft der eher Gleichen wie unserer, die zudem immer weniger an letzte Dinge glaubt, ist zumindest dieser Hinweis unnötig.

Aber das 20. Jahrhundert hat mehr Tod erlebt als jede andere Zeit. Warum findet er trotzdem keinen Niederschlag in der zeitgenössischen Ästhetik?

Klonovsky: Ich weiß nicht, zu welchem normalmenschlichen Gegenstand die zeitgenössische Ästhetik überhaupt noch einen Bezug hat. Vielleicht zur Pornographie. Die Liebe findet ja auch kaum mehr statt. Der Tod ist eben uncool. Sterben stört die Party. Man soll sich still und heimlich davonmachen.

Ist der Tod also konservativ?

Klonovsky: Insofern der Konservative den Menschen eher als existentielles Wesen betrachtet und der Linke eher als soziales, mag das sein. Rein statistisch ist der Tod schließlich kein Problem, zumindest keines, das den sogenannten Fortschritt aufhält, und was tot ist, interessiert den Fortschrittler in der Regel nicht mehr, weil er es zugleich für überholt hält. Andererseits werden Menschen mit zunehmendem Alter oft konservativer. Ob die Gründe nun Erfahrung, Desillusionierung, Geschmacksverfeinerung oder Vitalitätsmangel heißen, dieser Gesinnungswandel vollzieht sich jedenfalls vor dem Hintergrund des näherrückenden Todes. Man könnte also formulieren: Der Tod macht konservativ.

Das ist der Alterstod – was ist eigentlich mit dem gewaltsamen Tod, der ist ja auch sehr verbreitet?

Klonovsky: Der würde den Aspekt der Strafe und der Rache ins Spiel bringen, vielleicht auch der Lust, die das Töten offenbar bereiten kann, ganz ohne Ewigkeit. Unsere Gesellschaft läßt es bekanntlich zu, daß der Mörder das Opfer bis zu seinem natürlichen Tod überlebt, ja daß er möglicherweise sogar wieder freikommt. Mit Hebbel gesprochen, soll der Tod in Menschengestalt aber nicht umhergehen. Es war ein guter Tag, als Eichmann hing. Das verfluchte 20. Jahrhundert hätte viele solcher Tage verdient. Ich finde, das einzige Argument gegen die Todesstrafe ist die mögliche Unschuld des Delinquenten. Ich sehe jedoch keinen Sinn darin, daß etwa ein überführter Kindermörder wie Marc Dutroux noch lebt – und daß die Qualen der Kinder weiter in der Welt sind, nämlich in der Endlosschleife seiner Erinnerung. Als Vater würde mich das verrückt machen.

Aber „Mein ist die Rache!“, redet Gott.

Klonovsky: Dann würden einige individuelle Termine seines Gerichts eben etwas beschleunigt. Im übrigen nehme ich angesichts der Bevölkerungsentwicklung an, daß ein anderer gewaltsamer oder beschleunigter Tod demnächst für völlig normal gelten wird, nämlich der durch Sterbehilfe herbeigeführte.

Wäre das eine Option für Sie?

Klonovsky: Das wird sich zeigen. Nachdem inzwischen alles darauf hinausläuft, daß man sich sogar die Beschaffenheit seiner Kinder aussuchen kann, fehlt eigentlich nur noch die Option, Todestermin und Todesart zu wählen. Ein Freund von mir erklärte, sein Wunschtod sei, mit dem Gesicht voran in eine warme Polenta zu fallen und, während er seinen letzten Seufzer tue, mit der Zunge noch nach einem wunderbar kroß gebratenen Steinpilz zu langen. Daran erkennt man, daß der Mann Philosoph ist.

Und Ihr Wunschtod?

Klonovsky: Vielleicht wirklich bei Tische. Oder am Meer. Mein Alptraum wäre der Tod im Krankenhaus. Doch womöglich besteht der elementarste Wunsch darin, daß ich nicht allein bin zu meiner Stunde, daß mir dann eine liebe Hand das letzte Kissen unter mein müdes Haupt schiebt. 

 

Michael Klonovsky, der Journalist, Schriftsteller und Aphoristiker schrieb über Schmerz („Giacomo Puccini. Schmerz der Schönheit“, 2008), Tod („Stalins Lager in Deutschland“, 1991), Leben („Welcher Wein zu welcher Frau?“, 2001) und Radfahren („Radfahren. Kleine Philosophie der Passion“, 2006). Geboren 1962 im Erzgebirge, arbeitete er als Maurer, Gabelstaplerfahrer und Platzwart, bevor er zu einem der profiliertesten Journalisten der Wendezeit avancierte (1990 „Wächterpreis der deutschen Tagespresse“). Heute ist er Chef vom Dienst beim Focus. Sein neues Buch „Lebenswerte“ (2009), das der Frage nachgeht, wofür es sich zu leben lohnt, lobte Peter Sloterdijk im „Philosophischen Quartett“: „Man fühlt sich in die Zeit Tucholskys zurückversetzt, als die deutsche Sprache noch vibrierte.“ www.michael-klonovsky.de

Foto: „Bleibacher Totentanz“ von Johann Winter (1723): „Wir leben allzeit sterbend und erfahren nie, was die ganze Veranstaltung soll und bei wem wir uns bedanken oder beschweren können“

 

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