© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

„Appetit auf deutsches Bauernland“
Zwanzig Jahre deutsch-polnischer Grenzvertrag: Der Verzicht auf die deutschen Ostprovinzen als Erfüllung polnischer Träume
Karl-Heinz Kuhlmann

Am 14. November 1990 wurde in Warschau der „Vertrag  zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze“ von den Außenministern Genscher und Skubiszewski unterzeichnet. In Artikel 1 dieses Vertrages bestätigten beide Länder „die zwischen ihnen bestehende Grenze“ und bezogen sich dabei auf das von früheren Bundesregierungen stets strikt abgelehnte und von der Regierung Adenauer als ungültig und rechtswidrig betrachtete „Abkommen von Görlitz“ vom 6. Juli 1950. Dieser deutsch-polnische Grenzbestätigungsvertrag erhielt nach dessen Billigung durch den Deutschen Bundestag am 17. Oktober 1991 bei 23 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 16. Dezember desselben Jahres Gesetzeskraft. Schließlich trat dann der Vertrag am 16. Januar 1992 durch den Austausch der Ratifikationsurkunden in Bonn völkerrechtlich in Kraft.

Wie aber kam das alles zustande? War es nur, wie Heiner Geißler, der ehemalige CDU-Generalsekretär noch vor kurzem in einer Talkshow erregt durch die Anwesenheit der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, von sich gab, Kompensation für die Vertreibung von Polen durch die UdSSR aus Ostpolen? Oder hatte dieser Grenzvertrag doch andere Gründe, die weiter zurückliegen und die das deutsch-polnische Verhältnis nicht erst seit dem 1. September 1939 bestimmten? Wenn man dieses Verhältnis nur vom Kriegsende 1945 her betrachtet, dann wird man das polnische Verhalten in der Sommerkrise 1939 zwischen beiden Ländern nicht richtig einordnen können.

Polnische Forderungen      waren 1920 nicht befriedigt

Mit dem Versailler Zuspruch der Provinz Posen und Westpreußens, der Annexion von Teilen Oberschlesiens hatte der junge polnische Staat im Westen weitgehende territoriale Ziele umgesetzt. Diese wurden mit dem Frieden von Riga 1921 schließlich auch im Osten realisiert (JF 35/10). Daß damit mit fast allen Nachbarstaaten jede Grundlage für eine einvernehmliche Koexistenz zerstört wurde, war den Warschauer Machthabern weitgehend gleichgültig. Ein Grund hierfür war auch die Bündnispolitik Frankreichs, in die sich Polen, der französische „Gendarm im Osten“, gerne einspannen ließ. Höhepunkte dieser Politik waren polnische Kriegs- bzw. Präventivkriegspläne gegen Deutschland, die seit den zwanziger Jahren vom polnischen Generalstab entwickelt worden waren und in denen immer auch polnische Gebietsgewinne im Westen einkalkuliert worden sind. Man wollte die Westgrenze Polens weit nach Deutschland hinein verlegen, wenn möglich bis vor Berlin oder noch weiter bis ins Wendland. Ein weiterer Grund war die ausgesprochen repressive Politik gegenüber den vielen Minderheiten in Polen, unter der die deutsche Minderheit, die sogenannten Volksdeutschen,  besonders zu leiden hatte.

Zahlreiche politische und gesellschaftliche Kreise waren darüber hinaus der Ansicht, daß Polen durch den Versailler Vertrag auch territorial gegenüber Deutschland noch nicht ausreichend saturiert worden sei. Entsprechende Forderungen wurden offen in der Presse, in Büchern und Broschüren, in Form von Landkarten, auf Vorträgen und vor allem von Verbänden lautstark formuliert und waren dementsprechend auch in Deutschland bekannt.

Insbesondere offen vorgebrachte polnische Forderungen nach Ostpreußen und dem bei Deutschland verbliebenen Teil Oberschlesiens wiederholten sich trotz der Abstimmungsergebnisse 1920 und der Teilung Oberschlesiens noch mehrfach, vorgetragen von einflußreichen Honoratioren des polnischen Staates. Diese Forderungen standen ganz in der bereits vor 1914 entwickelten „piastischen“ nationalistischen Tradition. 1921 wurde der chauvinistische „Verband zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete“ bzw. „Westmarkenver­band“(ZOKZ, später PZZ) gegründet. Dieser gab ein eigenes Mitteilungsorgan, die Westwacht (Straznica Zachodnia), heraus und machte durch zahlreiche Propagandaveranstaltungen auf sich aufmerksam. Der Verband forderte seit seiner Gründung eine radikale „Entgermanisierung“ der 1919/1920 gewonnenen Gebiete sowie eine weitere Ausdehnung Polens auf Kosten Deutschlands, vor allem in Richtung Ostpreußen und Oberschlesien.

So bezeichnete der „Westmarkenverband“ in seinem offiziellen Programm  von April 1926 die Oder als „natürliche Grenze Polens“ im Westen und gab die „aktuelle Devise“ aus: „Von Stettin bis Polangen“. Ende Juli 1930 forderte der Verband eine Ausdehnung Polens nach Norden (Ostpreußen, Pommern): „Wir werden so lange danach rufen und es verlangen, bis die polnische Fahne wieder in Danzig, über Ermland und Masuren, sowie fern an der Elbe, mindestens aber über Stolp wehen wird.“

Die Reichsregierungen, auch die demokratischen bis 1933, sahen sich nicht nur mit polnischer Unnachgiebigkeit in bezug auf den Versailler Vertrag konfrontiert, sondern auch noch mit neuen Forderungen. Das Deutsche Reich hatte unter Hitler mit Polen bereits 1934 einen Nichtangriffspakt geschlossen, was das deutsch-polnische Verhältnis zunächst für eine ganze Weile entspannte. Seit 1938 akzeptierten die Siegermächte des Ersten Weltkrieges bedeutende, dem damaligen Willen der betroffenen Bevölkerungsmehrheit entsprechende Grenzrevisionen – den Anschluß Österreichs am 13. März 1938 sowie Grenzrevisionen gegenüber der Tschechoslowakei (Sudetenland) ab 1. Oktober 1938 und Litauen (Memelgebiet) am 23. März 1939. Großbritannien und Frankreich haben letztlich sogar die Errichtung des „Reichsprotektorates Böhmen und Mähren“ am 16. März 1939 hingenommen.

Es liegt auf der Hand, daß Polen angesichts dieses Entgegenkommens der Westmächte gegenüber Deutschland  nervös werden mußte, zumal Hitler seit Oktober 1938 auch in Richtung Warschau Revisionsvorschläge machte, die übrigens alle Regierungen vor ihm auch im Sinn hatten. Im Zuge einer „Generalbereinigung“ aller strittigen Fragen zwischen Polen und dem Deutschen Reich schlug Hitler ein „Paket“ vor, das die Rückkehr Danzigs zu Deutschland, die Errichtung einer exterritorialen Auto- und Eisenbahnverbindung zwischen Pommern und Ostpreußen/Danzig durch den polnischen „Korridor“, eine gegenseitige Grenzanerkennung – also gegen polnische Bestrebungen, noch weiter nach Westen vorzurücken – sowie den Beitritt Polens zum gegen die Sowjet­union gerichteten „Antikominternpakt“ vorsah. Polen lehnte das alles rundweg ab – trotz aller Zureden aus England und Frankreich –, was dann auch am 26. März zum Abbruch der deutsch-polnischen Verhandlungen und – nach der britisch-französischen Garantieerklärung für Polen am 31. März 1939 – zur Kündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes durch Deutschland am 28. April 1939 führte.

Der polnische Außenminister Jozef Beck wies seinen Botschafter in Berlin Lipski an jenem 26. März 1939 an, sich jeglicher Verhandlung über Danzig zu verweigern. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles insgeheim passiert, ohne einen öffentlichen Hinweis auf die deutsch-polnische Entfremdung. Nun flammte sie hell auf, und die polnische Regierung zog, um ihre Entschlossenheit zu zeigen, polnische Reservisten ein (Teilmobilmachung), was wohl einer Drohung gleichkam. Der Überschätzung der politischen Möglichkeiten Polens entsprach  die der militärischen Chancen. In dem bereits 1935 ausgearbeiteten, 1938/39 modifizierten Operationsplan für den Fall eines Krieges gegen Deutschland hielt man – wobei man ein Zusammenwirken mit den sogleich nach Kriegsbeginn zur Offensive im Westen antretenden verbündeten Franzosen voraussetzte – ein Auffangen der erwarteten deutschen Angriffsstöße in den polnischen Grenzbezirken für wahrscheinlich und einen folgenden Übergang zur Offensive der intakt gebliebenen polnischen Angriffsarmeen auf Ostpreußen und zum Stoß auf Berlin für realisierbar.

Auf Gewinn nach deutscher Katastrophe gesetzt

In diesem Zusammenhang sind die Berichte des Völkerbundkommissars für Danzig, des Schweizers Carl J. Burckhardt, aufschlußreich. Er traf sich am 23. Juli 1939 im Beisein von General Bronislaw Regulski mit Beck, der monologartige Äußerungen machte, deren Inhalt Burckhardt so interpretierte: „Die Polen warten in scheinbarer Ruhe. Beck, während dieser nächtlichen Fahrt, hat mich etwas in seine Pläne eingeweiht. Weiterhin spielt er sein doppeltes Spiel.  (...) Es ist ein Spiel, bei welchem man für Polen auf den höchsten Gewinn hofft, einen Gewinn, der sich ergeben soll aus einer unvermeidlichen deutschen Katastrophe. Aus diesem Grunde treibt man die Deutschen in ihre Fehlhandlungen hinein, und in Danzig läßt man mit Vergnügen die Extremisten triumphieren, während man gleichzeitig immer wieder das Festhalten an den äußeren Formen der Verträge betont. Eines Tages wird man dann die Rechnung präsentieren und Zinsen und Zinseszinsen einfordern. Schon jetzt, indem man in einer Weise mit den Nationalsozialisten kollaboriert, ist es gelungen, im ganzen Westen, in Frankreich, England und Amerika eine solidarische Abneigung gegen jede Revision der Verträge zu schaffen. Das war 1932 ganz anders. Damals hat mehrheitlich die westliche Meinung in den großen Demokratien sich für die deutschen Minoritäten eingesetzt. Man regte sich über schlecht gezogene Grenzen auf, über isolierte Provinzen. Dank den exzessiven Methoden des Nazismus ist das alles beendet, und jetzt hofft man im stillen in Warschau nicht nur auf die bedingungslose Integration Danzigs in den polnischen Staatsbereich, sondern auf viel mehr, auf ganz Ostpreußen, auf Schlesien, ja auf Pommern. Im Jahre 1933 sprach man in Warschau vom polnischen Pommerelien, aber jetzt sagt man ‘unser Pommern’.“

Gravierendere Irrtümer als diejenigen des polnischen Außenministers über die Stärke der deutschen Wehrmacht und der polnischen Armee und die Bereitschaft der UdSSR, sich mit Deutschland auf Kosten Polens zu einigen, kann man sich heute kaum vorstellen. Die Selbstüberschätzung hatte zunächst katastrophale Folgen, brachte dann jedoch durch das Potsdamer Protokoll den Gewinn von Ostpreußen, Pommern und Schlesien.

Es ist keine Frage, daß das polnische Volk in den Jahren von 1939 bis 1945 schwer gelitten hat. Es ist jedoch historisch falsch, in Deutschland den alleinigen Verursacher daran zu sehen. Das wird auch in einem Bericht des Leiters der Ostabteilung des britischen Foreign Office über eine ausgedehnte Polenreise im Juni 1939 letztlich bezeugt. Dort heißt es, daß hochgestellte polnische Gesprächspartner aus Politik und Militär von einer unabwendbaren kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich ausgingen, die man zwar nicht selber vom Zaune brechen wolle, die dann aber trotz eigener (polnischer) militärischer Überlegenheit zu einem europäischen Krieg eskalieren müsse. Die polnischen Gesprächspartner hätten ihrer Überzeugung Ausdruck gegeben, daß Polen bei dem erwarteten schnellen Sieg weitere Gebietsgewinne verzeichnen werde. (...) Die Menschen in Polen verlange es nach einem „Gang gegen die Deutschen“ und es gebe „Appetit auf deutsches Bauernland“ .

Alte polnische Träume wurden nach 1945 wahr. Sie bedurften allerdings der totalen Niederlage des Deutschen Reiches. Daß Polen diesen Traum mit großen Opfern unter der deutschen Herrschaft zu bezahlen hatte, bleibt unbestritten. Das Argument von der Westverschiebung Polens als Kompensationsgrund für die Annexion der deutschen Ostprovinzen ist deshalb nur ein Teil dieser Wahrheit und ganz und gar nicht der Hauptgrund. Der chauvinistische „Appetit auf deutsches Bauernland“ wurde letztlich mit der Unterzeichnung des Grenzanerkennungsvertrages vom 14. November 1990 gestillt.

Foto: Polnische Soldaten setzen 1945 Grenzpfosten am Oderufer: Westgrenze Polens wenn möglich bis ins Wendland hinein verlegen

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