© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

Feines Gespür für das drohende Unheil
Seismograph deutsch-englischer Differenzen: Edward M. Forsters Vorweltkriegsroman „Howards End“
Heinz-Joachim Müllenbrock

Mit seinem vor hundert Jahren veröffentlichten Roman „Howards End“ rückte Edward Morgan Forster (1879–1970) in die vorderste Reihe englischer Schriftsteller. Als das Buch im Oktober 1910 erschien, bewegten sich die deutsch-englischen Beziehungen auf den Tiefpunkt der zweiten Marokkokrise zu.

Das zeitgeschichtliche Thema des deutsch-englischen Verhältnisses, dem Forsters Interesse in „Howards End“ gilt, ist geschickt in die literarische Struktur integriert. Wie schon in seinem Erstling „Where Angels Fear to Tread“ (1905) geht es Forster auch hier um den sein gesamtes Romanwerk durchziehenden Gegensatz zwischen inner life, dem auf innere Werte abgestellten Leben persönlicher Bindungen und kultivierter Muße, und outer life, einer auf praktische Klugheit und materiellen Gewinn ausgerichteten Lebensweise, wie sie für Forster vor allem die englische Mittelklasse verkörperte.

Dieser Gegensatz wird durch die Begegnung der erfolgreichen, aber philiströsen Wilcox-Familie mit den feinsinnigen, aber weniger lebenstüchtigen Schlegel-Geschwistern veranschaulicht. Letztere – der Name Schlegel spricht Bände – werden aufgrund ihrer deutschen Abstammung als Repräsentanten des deutschen Bildungsbürgertums gezeichnet. Forster, der 1905 einige glückliche Monate als Tutor auf dem pommerschen Gut Nassenheide bei der Gräfin von Arnim, Verfasserin des Bestsellers „Elizabeth and her German Garden“ (1898) verbrachte, hat authentische Erfahrungen in seine Schilderung des deutschen Kulturmilieus einfließen lassen. Die erwähnte Figurenkonstellation gestattet es dem Autor, der Aktualität deutsch-englischer Beziehungen historische Konturen zu geben.

Den Hebel für die geschichtliche Grundierung dieses die unruhigen Zeitumstände reflektierenden Romans bietet der der eigentlichen Handlung vorgeschaltete Lebenslauf des Vaters der Schlegel-Geschwister. Ernst Schlegel, als Landsmann Hegels und Kants bezeichnet, wird als Idealist charakterisiert. Seinem Vaterland, das nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 ein ungewohntes Großmachtstreben entfaltete, hatte er den Rücken gekehrt, um sich in England niederzulassen. In der Biographie Ernst Schlegels bekräftigt Forster das Mißtrauen, das der neuen kontinentalen Vormacht auf der Insel zunehmend entgegengebracht wurde.

Die im folgenden um Ausgewogenheit bemühte Thematisierung der deutsch-englischen Beziehungen setzt also mit einer Konzession an die englische Seite ein, denn aus objektiver Warte ist es alles andere als plausibel, daß sich Ernst Schlegel ausgerechnet in das nicht weniger imperialistische und materialistische England begibt. Mit diesem taktischen Schachzug will Forster, um die Belastbarkeit seines eher deutschlandkritischen Publikums nicht zu strapazieren, offenbar einen grundsätzlichen Konsens mit seinen Landsleuten signalisieren. So läßt auch er auf dezentere Weise das in der englischen Literatur nach 1871 häufiger begegnende Motiv der „zwei Deutschland“ anklingen, allerdings im Geist kosmopolitischer Verständigungsbereitschaft.

Denn obwohl Forster, um rühmenswerte Aspekte deutscher Mentalität in den Blick zu rücken, bewußt die Vergangenheit bemüht, ist seine literarische Strategie darauf gerichtet, im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturmilieus den Absolutheitsanspruch beider Seiten einzuschränken. Dabei gelingt es ihm, in einem privaten gesellschaftlichen Mikrokosmos den im Makrokosmos der großen Politik spürbaren Verfall der insbesondere durch die Flottenrivalität belasteten deutsch-englischen Beziehungen durchscheinen zu lassen.

Unterschiede zwischen nationalen Mentalitäten

In Wickham Place stoßen die patriotischen Engländer und Deutschen, Verwandte der Schlegels, aufeinander, gleichermaßen überzeugt von der Mission ihres Landes, die führende Rolle in der Welt zu spielen. Die Widerspiegelung des Großen im Kleinen wird satirisch inszeniert, wenn Frieda Mosebach und Mrs. Munt, Vertreterinnen eines törichten Chauvinismus, sich wegen der relativen Überlegenheit von Poole Harbour und der gezeitenlosen Ostsee in die Haare geraten. Ihre hitzige Auseinandersetzung ist als atmosphärisches Pendant zu der sich immer erregter gestaltenden und irrationaler Züge keineswegs entbehrenden öffentlichen Diskussion zwischen England und Deutschland intendiert. Gerade in den unreflektierten, wie von selbst sprudelnden nationalistischen Äußerungen wird die Verhärtung in der beiderseitigen Bewußtseinsbildung transparent. Daß Forster völlig ohne Anspielungen auf konkrete politische Ereignisse auskommt, zeigt, daß er seine englischen Leser nur allzu vertraut mit der explosiven Stimmungslage in bezug auf Deutschland wußte. Aus der komischer Aspekte nicht ermangelnden Schilderung deutsch-englischer Mißhelligkeiten spricht Forsters tiefe Besorgnis über eine drohende Kollision der beiden, wie es an einer Stelle heißt, „führenden Nationen“.

Forsters humanistischer Grundimpuls, zur Überwindung der Schranken zwischen den Menschen – in diesem Fall nationaler Barrieren – aufzurufen, kulminiert in dem vielschichtigen Beziehungsgeflecht zwischen Schlegels und Wilcoxes. Forster, der die Bedeutung der Wilcox-Familie für das nationale Ganze nicht verkennt, bringt deren Vorbehalte Deutschland gegenüber ungeschminkt zum Ausdruck. So sagt beispielsweise die politisch völlig desinteressierte Mrs. Wilcox ohne Arg: „Im allgemeinen scheinen die Leute Deutschland nicht recht zu mögen“ – ein unmißverständlicher Beleg für die negative Entwicklung des englischen Deutschlandbildes –, und der ältere Wilcox-Sohn macht aus seiner Animosität gegen Deutschland kein Hehl. Daß die Wilcoxes offenbar den Liberal Imperialists zuneigen, ist zeitgeschichtlich recht aufschlußreich, war es doch diese die britische Außenpolitik bestimmende Gruppe innerhalb der Liberalen Partei, die im Sommer 1914 im gespaltenen Kabinett Asquith die Kriegserklärung an das Deutsche Reich durchsetzte.

Forsters Roman, der es unternimmt, Unterschiede zwischen nationalen Mentalitäten auszuloten, ist, mittels wohlberechtigter Kritik an Defiziten beider Seiten, auf Konzilianz und Schlichtung abgestellt. So erklärt Ernst Schlegel einem deutschen Besucher vorwurfsvoll, daß der Pangermanismus ebenso phantasielos sei wie der britische Imperialismus, weil beide bloßer territorialer Ausdehnung als ihrem Götzen huldigten.

Absage an falschen Überlegenheitsgestus

Die weitestgehende Annäherung zwischen den beiden Familien mit ihren nationalen Eigentümlichkeiten vollzieht Margaret Schlegel, die positive Leitfigur; ihr wird das dem Roman vorangestellte Motto „Only connect“ am häufigsten in den Mund gelegt. Sie versucht, über den für das englische Selbstverständnis zentralen Begriff der Freiheit eine Brücke zu schlagen. So macht sie darauf aufmerksam, daß es um die politische Freiheit in England besser bestellt, daß aber mehr Gedankenfreiheit im bürokratischen Preußen anzutreffen sei.

Hinter solchen Vergleichen, die beide Länder einander relativierend zuordnen, Stärken und Schwächen fair ausbalancieren und so einem falschen Überlegenheitsgestus eine Absage erteilen, steht das Bestreben, eine unbesonnene Rivalität anzuprangern und statt dessen für eine konstruktive, von bornierten Fehleinschätzungen freie Koexistenz, wenn nicht gar ein Miteinander zu werben.

Ob Margaret Schlegels vernunftgeleitete Heirat mit dem verwitweten Mr. Wilcox , die gegen Widerstände aus beiden Familien geschlossen wird, die Wünschbarkeit einer Verbindung von englischem Pragmatismus und deutschem Idealismus nahelegen soll, sei dahingestellt.

Forster hat in „Howards End“ ein feines Gespür für das Unheil bewiesen, das sich über beiden Ländern zusammenbraute. Seine unspektakuläre, aber sensible Bestandsaufnahme deutsch-englischer Befindlichkeiten veranschaulicht, welcher Anstrengungen es auf beiden Seiten bedurft hätte, um aus einer vertrackten Situation noch herauszufinden. Wie die große Krise im Sommer 1914 zeigte, waren die Regierungen beider Länder trotz äußerlicher Entspannung nach der zweiten Marokkokrise (Panthersprung nach Agadir, 1911) zu einem echten Neuanfang weder fähig noch willens. Die nachteiligen Folgen für ihr beiderseitiges Versagen sind Geschichte.

Als der Anglist Professor Alois Brandl, der zuvor mit hochrangigen englischen Persönlichkeiten zusammengetroffen war, im Sommer 1913 den deutschen Botschafter in London, Fürst Lichnowsky, aufsuchte, um diesem seine Bedenken angesichts der prekären politischen Lage vorzutragen, wurde ihm kurzerhand und leichthin bedeutet, daß er sich wegen der deutsch-englischen Beziehungen keine Sorgen zu machen brauche, weil es gut um sie stünde. Wie Forsters „Howards End“ belegt, wußte es der zeitfühlige englische Romancier besser als der leichtgläubige kaiserliche Diplomat.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über W.E. Forsters Erziehungsgesetz (JF 9/10)

Foto: Englische Gesellschaft vor hundert Jahren: Auf der Insel wurde der neuen kontinentalen Vormacht Deutschland Mißtrauen entgegengebracht

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