© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/10 12. November 2010

„Unverlierbares deutsches Volksgut“
Poetischer Realismus: Vor hundert Jahren starb der nationalliberale Schriftsteller Wilhelm Raabe
Wolfgang Saur

Am 15. November 1910 verstarb der Meister des poetischen Realismus, Wilhelm Raabe, in Braunschweig. Er hinterließ siebzig Romane, Erzählungen, Novellen aus sechs Jahrzehnten. Themen und Gehalt, Form und Ästhetik schillern dabei zwischen Biedermeier und Moderne. In düsteren Pessimismus eingehüllt, dem Kulturbetrieb entfremdet und überworfen mit seiner Zeit, schrieb sich der Greis in eine fast experimentelle Prosa hinein und blieb doch zeitlebens ein Exponent provinzieller Krähwinkelei. So verschwimmt uns – ein Vexierbild – die Wahrnehmung von Raabes Kunst.

Beim Tod des Alten 1910 entstand sogleich die 1. Raabe-Gesellschaft: das Andenken des Mannes zu wahren, der sich rühmte, er habe „das deutsche Volksbuch“ geschaffen (den „Hungerpastor“). Die Gemeinde scharte sich um ihn als nationalen „Führer“ und „Seher“, pries „Gemüt“ und „Innerlichkeit“. Josef Nadler und Oskar Walzel verbanden in den 1920ern Raabe mit seiner norddeutschen Heimat: „Da wird Raabe zum norddeutschen Gegenstück Stifters (…), wird er zum Bewahrer eines heimlichen Deutschlands, das längst im Verschwinden ist.“ Mit Romano Guardini 1932 setzte ein neues, vertieftes Verständnis ein, spricht er doch von Raabes „Größe eigener Art; alles andere als klassisch; alles andere als klar oder gar monumental. Verzwickt ist diese Größe; mit vielfacher Ironie und seltsamer Dialektik in sich selbst verfaltet. Unberechenbar, fast chaotisch in der Linienführung (…); dennoch wacht ein Kunstverstand und lenkt (…) Bilder, Gedanken und Stimmungen bis in die feinsten Akzente.“

Vormoderne Denk- und Lebensform

Konrad Adenauer beschwor nach dem Krieg die Trostfunktion der Litera-tur: „Wilhelm Raabe ist zwar der Schilderer des deutschen Volkes vor 1870, aber er hat auch unserer Zeit etwas zu sagen“, weil er „von tiefster Menschlichkeit erfüllt ist. Gerade der moderne Mensch, der den politischen und sozialen Zusammenbruch (…) miterlebt hat, wird aus dem Beispiel“ der Figuren Raabes „Trost und Kraft schöpfen, wird den Glauben an den Sieg des Guten und Edlen wiedergewinnen können. Darum bleibt Raabes Vermächtnis unverlierbares deutsches Volksgut.“

Während die Germanistik seit den 1960ern sich formanalytisch der „neu-artigen Komplexität“ von Raabes Texten, ihren Erzählebenen, -perspektiven und –zeiten zuwandte und den späten Autor als Pionier der „Gestaltung simultaner Bewußtseinsakte“ entdeckte, bestimmte Jost Hermand den Duktus der bürgerlichen Realisten: „Er ist partikular wie bei Gotthelf, lyrisch wie bei Storm oder versponnen wie bei Raabe. Jeder Dichter verwaltet nur seine eigene, ‘poetische’ Provinz, verliebt sich in die intimen Reize seiner landschaftlichen Geborgenheit und bleibt relativ unpolitisch. “

Wilhelm Raabe wird am 8. September 1831 im braunschweigischen Eschershausen als Sohn eines Justizbeamten geboren. Seine Geburt fällt zusammen mit dem Ende der „Kunstperiode“, die einer neuen, aggressiveren Zeit weichen muß. Nach Schuljahren in Holzminden und Wolfenbüttel und buchhändlerischer Tätigkeit in Magdeburg hört Raabe Vorlesungen an der Berliner Universität. In Berlin verfaßt er seinen ersten Roman, die „Chronik der Sperlingsgasse“ (1856), der sogleich zum Erfolg wird, geschätzt bis heute. Wieder zurück in Wolfenbüttel, widmet er sich fortan dem Schreiben. Er schließt diesen Abschnitt mit Heirat und Übersiedelung nach Stuttgart ab, wo er bis 1870 glückliche Jahre verbringt. Im reichen literarischen Leben der württembergischen Residenz entsteht eine Romantrilogie, deren erster, „Der Hungerpastor“ (1864), sein prominentestes Buch wird. 1870 nach Braunschweig heimgekehrt, verbringt Raabe dort samt Familie den Rest seines Lebens, bürgerlich angepaßt und kulturell isoliert. In diesen Jahrzehnten erarbeitet er sich die widerständige, späte Prosa. Nach 1900 verstummt er ganz.

Raabes Schaffen entfaltet sich vor dem politischen Hintergrund der Reak-tionszeit, des innerdeutschen Konflikts, des Deutsch-Französischen Krieges, der Reichsgründung. All dies erlebt ein Mann, der sich als Nationalliberaler versteht, kleindeutsch und bismarckisch gesinnt. So wird ihm 1866 zum Glücksjahr – nicht jedoch 1871! Seine Abwehr provozieren das „Siegergeschlecht“, das „Neupreußentum“ im Verein mit technischem Fortschritt und gesellschaftlicher Dynamik. Zerstören sie doch Raabes vormoderne Denk- und Lebensform, die beheimatet war im Gassengewirr der alten Städte und der barocken Sprachfantasie Jean Pauls. So ergibt sich das Paradox eines der Generation nach typischen Reichsnationalisten, dessen liberalkonservative Sicht indes sich der neuen Zeit doch verschließt.

Raabes stilles Glück gedeiht nur in Abgeschiedenheit. Seine Figuren lehrt er Einfachheit und Entsagung, während ihr Autor die Gegenwart negiert. „Abgelegene Nester, einsame Häuser, Höfe, die von der Straße abliegen, Giebelzimmer, zu denen der Lärm der Straße nicht hinaufdringt, sind die Inseln, zu denen die Unweltläufigen flüchten“ (Walzel).

Sonderlinge, Käuze sind es, die sich vom Getriebe der Welt fernhalten, Helden klagloser Selbstüberwindung. Am Rand der Gesellschaft üben sie ihre mahnende Rolle. Von da aus erschließen sich Raabe soziale und frühe ökologische Probleme der Gründerjahre. So in der Erzählung „Pfisters Mühle“ (1884), wo zwei Müller gegen den Bau einer Zuckerfabrik und die Verschmutzung des lebenserhaltenden Wassers vergeblich ankämpfen.

Dualistisches Weltbild, schlichte Philosophie

Dagegen mutet Raabes Kampf gegen das „Philistertum“ ebenso muffig wie kritisch diffus an: So will er mit seinem Roman „Abu Telfan“ (1867) eine vernichtende Satire auf das „germanische Spießbürgertum (…) in seiner ganzen Staats- und Kommunalsteuer zahlenden, Kirchstuhl gemietet habenden, von der Polizei bewachten und von sämtlichen fürstlichen Behörden überwachten, gloriosen Sicherheit“ schreiben. Und porträtiert sich doch gleichzeitig selbst als Maler Haeseler, dem Helden des „Dräumling“ (1872), der aus der römischen Kunstwelt in den (kleinbürgerlichen) „Sumpf‘“ der Lüneburger Heide strebt, um am Grund der Provinz zu verenden.

Sein Lebensideal gestaltet hat Raabe im „Hungerpastor“, der als Bildungs-roman der Zeit gelten kann. Gleich die Einleitung entwirft das Programm: „Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, vom dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag. Wie er (…) im einzelnen zerstörend und erhaltend wirkt (…) bis an der Welt Ende.“ Raabe unterscheidet den „wüsten“ vom „aufbauenden“ Hunger. Letzterer, beseelt von „Wahrheit-Freiheit-Liebe“, führt zur „rechten, tüchtigen Arbeit“. So hier den positiven Helden Jakob Unwirsch, den Schuhmachersohn; sein Schulfreund, Moses Freudenstein, zwar begabt, doch skrupellos, hetzt auf der Jagd nach Reichtümern und Macht durchs Leben.

Raabe konstruiert also zwei antagonistische Lebensläufe. Der eine scheitert moralisch, während der arme Theologe Unwirsch nach tausend Plagen endlich Pfarrei und auch Braut gewinnt und zu frommer Selbstbescheidung im stillen Winkel einkehrt. Der „Hunger“ meint also einmal den „Drang nach dem Ideal“, äußeren Verzicht bei innerlicher Erfüllung, zum anderen aber materielle „Gier“, weltlichen Sukzeß eben. Ein Buch, das Generationen in Atem hielt, uns aber völlig entrückt ist – bilden sein dualistisches Weltbild und die schlichte Philosophie doch eine gigantische Schieflage.

So gingen Raabes Gemütskultur und Mitwelt auseinander, sie waren nicht vermittelbar. Diesen Bruch teilt seine Kunst. Es brauchte ganz andere Darsteller und Richter ihrer Zeit, das Wagnis neu zu ergreifen. www.raabe-gesellschaft.de

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