© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Der Flaneur
Der mit der Zahnbürste
Baal Müller

Seit einem Jahr pflege ich einen recht mobilen Lebensstil. Dazu paßt auch der Name des Hotels, in dem ich derzeit in einer märkischen Kleinstadt logiere: „Zur Eisenbahn“. Den nahen Bahnhof benutze ich als Automuffel recht häufig, wenn ich mich im Berliner Großstadtdschungel auf Pirsch begeben möchte. Da man tagsüber leicht in die Hauptstadt hinein-, zu vorgerückter Stunde aber nicht wieder hinauskommt, muß man sich auf eine Übernachtung einrichten und nötige Utensilien wie eine Zahnbürste mitführen. Als ich neulich bemerkte, daß ich eine Zahnbürste irgendwo liegengelassen hatte, wo ich sicher nicht mehr hingehen werde, erstand vor meinem geistigen Auge als neuer Typus des urbanen und gepflegten, dabei etwas improvisiert lebenden und leicht hochstaplerischen Playboys – der „Zahnbürstenmann“.

„Der Damenwelt signalisiert die Zahnbürste, daß er nicht nur zu einem Kaffee bereit ist.“

Nicht daß ich selber ein solcher wäre; ich habe diesen Typus lediglich erfunden. Wenn es ihn aber gäbe, hätte er seine Zahnbürste diskret sichtbar im Revers oder, etwas legerer, in der Hemdtasche stecken, wo bei anderen die Schachtel Marlboro ihren Platz hat. Der Damenwelt würde er dadurch signalisieren, daß er nicht nur bereit ist, zu einem Kaffee mit hinaufzukommen, sondern dabei auch auf Hygiene achtet. Man könnte sich eine kleine Geheimsprache vorstellen, in der die Farbe der Zahnbürste oder die Länge ihres Herausragens etwas über diese Bereitschaft verriete; der Zahnbürstenmann gesellte sich dann der Kameliendame an die Seite, die zu ihren Verehrern „durch die Blume“, genauer gesagt, durch deren Farbe, sprach.

Freilich hat er nichts von deren aus Sehnsucht und Todesnähe gewobener Tragik, sondern er vertritt, trotz oder wegen seines provisorischen Lebensstils, einen umsichtigen, „kalkulierten“ Hedonismus und ist von guter, fast aufdringlicher Gesundheit. Sein größtes Problem wäre wohl, wenn ihm beim Näherrücken die Zahnbürste aus der Brusttasche fiele: Dies würde einen schlechten Liebhaber verraten.

 

Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift.

Ernst Jünger (1895–1998)

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