© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Im Käfig des Hedonismus
Die US-Amerikanerin Irene Vilar reflektiert ihre Abtreibungen als Geliebte eines liberalen Uni-Professors
Ellen Kositza

Was für ein Buch, was für eine Frau! Irene Vilar erzählt ihre Lebensgeschichte. Es ist die Geschichte von 15 Abtreibungen innerhalb von 17 Jahren.

Vilar, Jahrgang 1969, groß, blond,  zutiefst melancholische Augen, ist nicht verwandt mit der prominenten Alice-Schwarzer-Kontrahentin Esther Vilar, sie ist allerdings Enkelin von Lolita Lebron, jener Freiheitsaktivistin, die 1954 mit einer Waffe und der puertoricanischen Nationalflagge das Kapitol erstürmte und damit die US-Regierung stürzen wollte. Dafür saß sie 27 Jahre im Gefängnis, sie starb 2010. Lebrons Tochter nahm sich das Leben, nachdem sie vier Kinder zur Welt gebracht hatte und Opfer der Massensterilisationen in Puerto Rico geworden war.

Irene war damals acht. Als ihr Vater erneut heiratete, war sie dreizehn und nur zwei Jahre jünger als ihre Stiefmutter. Einer von Irenes Brüdern ist nach einem Unfall schwerstbehindert, die beiden anderen verfallen der Drogensucht. Das Mädchen ist eine begabte Schülerin, bereits mit 15 nimmt sie ein Studium in den USA auf. Für ihren Literaturprofessor in Syracuse, Pedro Cuperman, ist die blutjunge Studentin eine geborene Verführerin. Gleichaltrige Frauen lehnt der 50jährige ab: „Ich brauche eine ungefertigte, ungeformte Frau, die nicht zu viele Narben hat“, erklärt er seiner Geliebten. Die bewundert das intellektuelle Umfeld des Älteren, schaut auf zu den Frauen, mit denen er sich auf Parties umgibt und bedankt sich artig für die Komplimente, die er ihren Brüsten macht. Wie „plump und unbeholfen“ fühlt sie sich „zwischen all diesen selbstsicheren Menschen!“ Seine Radikalität schockiert und beeindruckt sie: „Sein Intellekt machte vor nichts halt: Familie, Bildung, Bücher, Liebe, Gott, nichts war ihm heilig außer der Fähigkeit zu riechen, wo etwas faul war.“ Der Professor legt ihr die Lektüre de Sades und Simone de Beauvoirs ans Herz, er möchte, daß sie eine unabhängige Frau wird, die sich von ihren biederen Sehnsüchten löse. Cuperman erwartet, daß Vilar – obwohl in finanziell prekären Verhältnissen – stets die Hälfte bezahlt, wenn sie ausgehen. Dies „sei die einzige Möglichkeit, einer Verdinglichung unserer Beziehung zu einem Vater-Tochter-Verhältnis zu entgehen“.

Vilar wiegt 48 Kilo, sie leidet an Hunger und eklatanten Minderwertigkeitsgefühlen. Schnell wird sie schwanger, sie läßt abtreiben. Die zweite Schwangerschaft folgt unmittelbar: „Er hatte mir erklärt, die Familie töte das Begehren ab, von der Liebe ganz zu schweigen. Ein Kind in meinem Alter würde mich nur zu einem weiteren Gender-Opfer machen. Er denke dabei nur an mich, rette mich vor den Ketten des Hausfrauendaseins.(…) Ich war schwanger mit einem Kind, das ich mir wünschte und das er, das wußte ich, verachten würde. Ich war unwissend und unkultiviert, er war genial und hatte geschliffene Manieren.“

Mit Gas, Alkohol und Pillen unternimmt Vilar ihren ersten von zahlreich folgenden Suizidversuchen und verbringt die nächsten Wochen in der Psychiatrie. An Attraktivität verliert sie für ihren „Meister“ dadurch nicht. Der hat eine ausgewiesene Schwäche „für Frauen am Rande der Selbstzerstörung“. Die Selbstmordphantasien seiner Gespielin seien ihr „großes Projekt“, ein „wundervolles Problem, der Stoff, aus dem Poesie entsteht“. Er werde ihr helfen, eine dramatische Schriftstellerin zu werden. Bald darauf werden Irene „vierhundertachtzig Gramm Körpermasse ausgeschabt“; es wird nicht ihre einzige Abtreibung jenseits des dritten Monats bleiben. Irene schämt sich vor den Ärzten und wechselt die Krankenhäuser, selbst bei einem Aufenthalt in ihrer Heimat Puerto Rico findet sie Mediziner, die ihr „helfen“.

Die ersten acht Abbrüche finden im Schnitt mit einem Abstand von acht Monaten statt. Nach elf Jahren trennt Vilar sich von Cuperman. Ohne Mann ist sie seit ihrem 14. Lebensjahr nie gewesen, unfähig, das Alleinsein auszuhalten. Auch von ihrem neuen Freund wird sie wiederholt schwanger – und beendet, was sie eigentlich angestrebt hatte. Irene Vilar spricht von einer „Abtreibungssucht“, dabei ist ihr Problem komplexer; es ist zugleich die paradoxe Sehnsucht danach, schwanger zu sein. Jede neue Schwangerschaft erfüllt sie mit Stolz, sie beschreibt es als „eine Form der Kampfansage“ gegen den Mann und ihre seelische Abhängigkeit von ihm. Dann wiederum gewinnt die Angst verlassen zu werden Oberhand, und dem Wunsch nach „Selbstbestrafung“ wird stattgegeben. 2003 lernt Vilar einen alleinerziehenden Vater kennen, sie heiraten nach wenigen Tagen. 2005 bringt Irene Vilar ihre erste Tochter zur Welt, ein Jahr darauf eine zweite.

Irene Vilar kämpft zwischen allen Fronten

Anders als andere Frauen, die wie Vilar mit Schrecken und Scham an vergangene Abtreibungen denken, hält die Autorin Distanz zu Pro-Life-Organisationen, die in Nordamerika wesentlich rabiater agieren als hierzulande. So sitzt sie zwischen den Fronten: Feministinnen mögen es nicht lesen, daß diese Frau ihre nunmehr errungene Mutterschaft als Gnade und Erlösung begreift, Lebensschützer überschütten sie mit Häme, Vilar hat Morddrohungen erhalten. Ihr Mann durchkämmt das Internet, um bösartige Attacken zu eliminieren. Als Vilars Buch 2009 im angelsächsischen Sprachraum erschien, entflammte es die Gemüter. Geradezu kübelweise wird Haß über Vilar ausgeschüttet, und es sind keine ausgewiesenen Abtreibungsgegner, die sich auf diversen Netzseiten empören. Meist beginnen die Einträge mit solchem Vorbehalt: „Ich bin ganz grundsätzlich pro-choice, aber …“ Viele bestätigen, was auch Vilar selbst betont: Daß sie das wertvolle Recht auf Abtreibung sträflich mißbraucht habe. Das freilich ist ein schiefes Urteil. Wären drei, wären vier Abbrüche aus „psychischer Notlage“ also eine legitime Beanspruchung dieses Rechts? Oberhalb welcher Zahl, ab welchem Grad des sozialen, seelischen, körperlichen Wohlergehens wäre eine Abtreibung moralisch verwerflich?

Es ist schade, daß Vilar gegen Ende ihres brisanten Buchs in längeren Passagen ihre „harte Arbeit“ mit Seelenkundlern reflektiert. Unschön tritt jene Nebenwirkung zutage, die Psychotherapiepatienten häufig ereilt: Das Knäuel der belastenden Vergangenheit mag aufgedröselt sein, aus der elliptischen Kreisbahn um die eigene Person gibt es hingegen kein Entkommen. Die simplen Mutmachsätze, die aus dem Ratgebervokabular entnommen zu sein scheinen, banalisieren am Ende die Tragödie, so daß das tief empfundene Mitleid gegenüber dieser Frau in „Leibeigenschaft“ gelegentlichem Unwillen weicht.

Dieses Buch sagt mehr aus über Abtreibungsgründe als alle Statistiken und Behauptungen. Die Zahl der Vielfachabtreiberinnen kann schwer erfaßt werden, sie dürfte beträchtlich sein. Eine Diskussion in Deutschland über das Buch wäre wünschenswert; sie wird ausbleiben.

Foto: Die 15 Aborte der Irene Vilar: Geradezu „abtreibungssüchtig“

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