© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Spannender als bei John le Carré
Der HVA-Überläufer Werner Stiller, späterer BND- und CIA-Agent, erzählt seine haarsträubende Geschichte
Jörg-Bernhard Bilke

Als Werner Stiller, Oberleutnant unter Markus Wolf im Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit, am 18. Januar 1979 die Fronten gewechselt hatte und zum „Klassenfeind“ nach West-Berlin übergelaufen war, soll Minister Erich Mielke mehrere Wutanfälle erlitten haben. Schließlich war die Verhaftung des um Haaresbreite Entkommenen schon für den 20. Januar angesetzt gewesen, wie er Jahrzehnte später in den Akten lesen konnte.

Der abtrünnige Nachrichtenoffizier, nach dessen Angaben etwa siebzig DDR-Agenten in der Bundesrepublik und im Ausland verhaftet oder durch Enttarnung nach ihrer überstürzten Flucht neutralisiert werden konnten, tat gut daran, mit CIA-Hilfe 1981 in die Vereinigten Staaten überzusiedeln und dort unter falschem Namen ein Wirtschaftsstudium zu absolvieren. Von 1983 bis 1990 arbeitete er bei der 1869 gegründeten Investment-Bank Goldman Sachs in New York und London, nach der Wiedervereinigung Deutschlands war er Börsenmakler und Bankdirektor in Frankfurt am Main, seit 1996 lebt er als Immobilien-Makler und Geschäftsmann in Budapest, da er durch seine erste Frau, eine gebürtige Ungarin, die nach seiner Flucht in Ost-Berlin zurückgeblieben war, die Landessprache beherrschte.

Vergleichende Studie beider deutschen Geheimdienste

Im Sommer 1982, während er noch in St. Louis/Missouri studierte, begann Werner Stiller mit der Niederschrift seines ersten Buches „Im Zentrum der Spionage“ (1986) über die knapp sieben Jahre 1972/79, die er als Leiter des Referats „Physikalische Grundlagenforschung und Nukleartechnik“ im Sektor „Wissenschaft und Technik“ der „Hauptverwaltung Aufklärung“ verbracht hatte, zuständig für die Ausspähung westdeutscher Kernforschungsinstitute. Angeworben worden war der am 24. August 1947 in Weßmar bei Merseburg geborene Physiker  – ein Arbeiterkind aus Sachsen-Anhalt – während seines Leipziger Studiums 1966/71, zunächst als inoffizieller (1970), dann, seit 1. August 1972, als hauptamtlicher Mitarbeiter.

Dieses erste Buch, an welchem der in Pullach bei München ansässige Bundesnachrichtendienst mitgeschrieben hatte, um Spuren zu verwischen, wies zahlreiche Schwächen auf. Einmal sollte, aus verständlichen Gründen, die Ausschleusungsaktion Werner Stillers und seiner Freundin Helga Michnowski anders als tatsächlich verlaufen dargestellt werden, um die „Hauptverwaltung Aufklärung“  des Markus Wolf mit falschen Informationen zu füttern, dann aber sollte das stille Wirken des Pullacher Dienstes bei Anwerbung und Führung des Agenten in günstigstem Licht erscheinen, eine Legende, mit der Werner Stiller im zweiten Buch gründlich aufräumt.

Kennern beider Geheimdienste, die auf deutschem Boden vier Jahrzehnte lang gegeneinander arbeiteten, dürfte das vergleichende Studium der Bücher Werner Stillers ein hohes Vergnügen bereiten. Schließlich hatte die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) seinerzeit eine empfindliche Niederlage erlitten, die sie am 19. August 1985 zu kompensieren suchte. Damals trat Hansjoa-chim Tiedge, geboren 1937 in Berlin und Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln, wo er für Abwehr der DDR-Spionage zuständig war, am Grenzübergang Helmstedt/Marienborn in den SED-Staat über und enttarnte eine Reihe von Westagenten. Er konnte später an der Ost-Berliner Humboldt-Universität eine Dissertation über die Abwehrarbeit des Verfassungsschutzes schreiben, wurde aber vom KGB aus Sicherheitsgründen am 23. August 1990 nach Moskau ausgeflogen, wo er noch heute lebt. Der Straftatbestand des Landesverrats ist seit 2005 verjährt, die Pension, die er von dem Staat bezieht, den er verraten hat, wird ihm monatlich nach Moskau überwiesen. Sein Buch „Der Überläufer“ erschien 1998.

Bei Werner Stiller war alles ganz anders und viel gefährlicher. In den ersten Kapiteln seines zweiten Buches erzählt er von Kontaktgesprächen schon 1969 mit Leipziger MfS-Leuten, bis er schließlich im Sommer 1970 angeworben wurde. Irgendwann muß dann bei ihm, dessen Verpflichtung zur Geheimdienstarbeit auch aus Abenteuerlust, wie er selbst schreibt, erfolgt ist, der Gedanke aufgekeimt sein, über die von ihm geführten Westagenten mit dem Bundesnachrichtendienst in Kontakt zu kommen. Zwei mißlungene Versuche, den einer angeworbenen Sekretärin im „Deutschen Atomforum“ in Bonn und den einer Ost-Berliner Medizinstudentin, die im Einsatzgebiet als weiblicher „Romeo“ auftreten sollte, schildert er ausführlich. Glück hatte er schließlich am 11. Januar 1978, als er nach Oberhof/Thüringen fuhr, um dort seinen „inoffiziellen Mitarbeiter“ Günter Sänger aus dem Siemens-Kabelwerk in Neustadt bei Coburg zu treffen, der mit einem Tagesvisum über den kleinen Grenzverkehr einreisen wollte.

Beim Abendessen im Panorama-Hotel lernte er eine attraktive Kellnerin kennen, zehn Jahre älter als er, durch die ihm ein Jahr später die Flucht in den Westen gelang, während sie mit ihrem 17jährigen Sohn Michael über Warschau nach Helsinki ausgeschleust wurde. Sie weihte er nicht nur darüber ein, daß er MfS-Offizier im Einsatz sei, was bei ihr Entsetzen auslöste, sondern auch, daß er mit ihr fliehen wolle, weshalb der Bundesnachrichtendienst, der Fluchthilfe leisten sollte, informiert werden müsse.

Das gelang ihm schließlich über Helga Michnowskis in Coburg lebenden Bruder Herbert Kroß, der, unter Einhaltung aller konspirativen Regeln, den Standortkommandanten des Bundesgrenzschutzes in Coburg verständigte. Das alles war, bei mehreren Unsicherheitsfaktoren, ein höchst riskantes Unternehmen, das in einem solchen Fall mit dem Tod durch Erschießen hätte enden können. In der Tat sind die sieben Kapitel bis zum Übertritt des „Schakals“, so der MfS-Name des gejagten Doppelagenten, auch die spannendsten des ganzen Buches.

Was man hier über das Innenleben zweier Geheimdienste erfährt, läßt auch den Laien noch nachträglich erschauern. Der Grenzübertritt wäre fast daran gescheitert, daß auf dem selbsterteilten „Dienstauftrag“ vorgesehene Daten fehlten. Nach Akteneinsicht Jahrzehnte später schrieb Werner Stiller: „Wäre mir am 18. Januar 1979 nicht die Flucht über den Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin gelungen, hätte man mich spätestens am 20. Januar verhaftet. Damals war mir der Grad meiner Gefährdung überhaupt nicht bewußt.“

Auch als er West-Berlin schon erreicht hatte, schwebte er ständig in höchster Gefahr, entführt oder ermordet zu werden. Als er anderthalb Stunden vor Mitternacht am Flughafen Berlin-Tegel ankam, war die letzte Maschine ins Bundesgebiet längst abgeflogen. Die Polizeiwache des Flughafens verständigte dann das Landesamt für Verfassungsschutz, die Amerikaner brachten ihn nach Berlin-Dahlem und boten ihm Asyl in den Vereinigten Staaten an, schließlich wurde er am nächsten Morgen nach München ausgeflogen.

Das Buch Werner Stillers ist aber auch eine Abrechnung mit der schlampigen Arbeitsweise des Bundesnachrichtendienstes, die 1999 schon einmal, in Gabriele Gasts Buch „Kundschafterin des Friedens“, öffentlich gemacht wurde. Die Verfasserin hatte unerkannt 17 Jahre lang als MfS-Agentin in Pullach arbeiten können, weil ihre DDR-Reisen seit 1968, als sie Doktorandin bei Klaus Mehnert in Aachen war, bei der Einstellung 1973 nie durchleuchtet worden waren.

Im Fall „Werner Stiller“ wäre die Ausschleusung Helga Michnowskis, die seit 15. Januar 1979 vier Tage in einem Warschauer Stundenhotel ohne Ausweiszwang warten mußte, während polnische Geheimpolizisten schon die anderen Hotels durchsuchten, fast mißlungen. Daß sie vorher an ihrem Arbeitsplatz in Oberhof nicht verhaftet werden konnte, von wo sie ohnehin schon nach Polen abgereist war, daran war der jähe Wintereinbruch in Thüringen schuld, denn die aus Berlin angereisten Verhaftungsgenossen hatten – der übliche Materialmangel – keine Winterreifen bekommen und mußten zwei Tage warten.

Wer zum „Klassenfeind“ überlief, war ein „Verräter“ und wurde, sollte er ergriffen werden, kaltblütig ermordet. Exekutionen aus politischen Gründen waren unter der berüchtigten Justizministerin Hilde Benjamin („rote Hilde“) an der Tagesordnung. Aber auch noch nach Werner Stillers Flucht sind zwei Fälle bekannt geworden: Winfried Baumann, Admiral der „Volksmarine“ und BND-Spion, erschossen am 18. Juli 1980, und MfS-Hauptmann Werner Teske, wegen „versuchten Landesverrats“ erschossen am 26. Juni 1981.

Armin Raufeisen dagegen war ein schon seit 1957 in Hannover aktiver MfS-Agent, der am 22. Januar 1979 mit Frau und zwei Söhnen überstürzt nach Ost-Berlin abgezogen wurde. Der ältere Sohn Michael, schon volljährig, lehnte die DDR-Staatsbürgerschaft ab und durfte im Dezember 1979 nach Hannover ausreisen. Nun hatte der Vater einen Verwandten ersten Grades im Westen und wurde folgerichtig als hauptamtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit entlassen.

Nach mehreren Aktionen, „illegal“ auszureisen, wurde die Familie am 11. September 1981 verhaftet und verurteilt: der Vater zu lebenslangem Zuchthaus, er starb am 12. Oktober 1987 unter ungeklärten Umständen „nach einer Gallenoperation“ im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf, die Mutter saß ihre sieben Jahre bis 1988 ab, Sohn Thomas seine drei Jahre. Alle saßen sie im Zuchthaus Bautzen II, Thomas Raufeisen hat 2009 in dem Buch „Das Ende einer Zwingburg der Stasi“ ausführlich darüber berichtet.

Fotos: Berliner Straßenszene in den Siebzigern: Auch in West-Berlin befanden sich DDR-Überläufer ständig in höchster Gefahr, S-Bahnhof Friedrichstraße

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