© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Historisches Zerrbild
Aus dem Geist des Schuldbewußtseins: Der Ruf des Auswärtigen Amtes wird demoliert
Thorsten Hinz

Die Diskussion um das Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ ist fast ausschließlich eine Angelegenheit von Politikern und Journalisten, die nach der Volksdebatte über Thilo Sarrazin wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen versuchen.

Ex-Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nutzte seinen Auftritt bei der Buchpräsentation im Auswärtigen Amt, um mehrere – allerdings stumpfe – Pfeile auf den früheren Bundesbankvorstand abzuschießen: Das Werk von Conze, Frei & Co. sei das wirkliche Sachbuch des Jahres! In der Frankfurter Rundschau überschritt Arno Widmann – stellvertretend für die vom Thema überforderte mediale Klasse – die Grenze zur Unzurechnungsfähigkeit, als er von Sarrazin und der Elite-Diskussion auf das aktuelle Bewältigungsbuch schloß: Es beschreibe, „wie aus Fremdenfeinden und Antisemiten Planer und Henker eines Massenmordes wurden“.

Wieder einmal flüchten sich Politik und Journalismus aus den Problemen der Gegenwart in die vermeintlich übersichtliche und daher geliebte, barmherzige NS-Vergangenheit. Das propagandistische Zerrbild einer zum Zweck von Welteroberung und Judenmord zusammengeschweißten Einheit aus Führer, Volk, Militär und Beamtenschaft soll eigene Defizite kaschieren und die Machtbasis befestigen.

Es ist eine Mischung aus Vatermord-Lust, Sozialkomplexen und Egalitarismus, die sich an der Vergangenheit des Auswärtigen Amtes und an der Familie Weizsäcker entzündet, die dorthin von 1938 bis 1943 einen Staatssekretär abgestellt hatte. Um den inkriminierten Elite-Geist der alten Berliner Wilhelmstraße zu veranschaulichen, sei aus einem 1923 erschienenen Memoirenbuch zitiert: „Es schwebte über dem Auswärtigen Amt ein Geist der Exklusivität, für den Außenstehenden lag über ihm der Nimbus des Geheimnisvollen, für den Laien Undurchdringlichen. Es war ein geschlossener Organismus innerhalb der Regierung, in den nur Auserwählten ein Einblick gewährt wurde, und diesen nicht gerne und nicht weiter als unbedingt notwendig war. In ihm walteten erkorene Priester ihres weihevollen Dienstes unter mysteriösen Gebräuchen.“

Von dieser Exklusivität aus dem Zentrum Preußens und des Deutschen Reiches hatte sich in der Bonner Republik einiges bewahrt: Das meiste im Auswärtigen Amt, aber nicht nur dort, wie Ulrich Raulff in seinem fulminanten Buch „Kreis ohne Meister“ über Stefan Georges Nachleben gezeigt hat. Die alten Eliten bezogen Führungspositionen in Zeitungen, Bildungseinrichtungen, Kirchentagspräsidien, in der Armee und der Ministerialbürokratie. Einst überwiegend preußisch-konservativ, waren sie nun bereit, die Zumutungen der westlichen Siegermächte ebenso hinzunehmen wie später die der Frankfurter Schule. Sie gaben sich prowestlich, modern und liberal, sie bestätigten öffentlich die Allein- und Kollektivschuld-thesen und rückten durch Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Holocaust in das Zentrum einer Zivilreligion. Gleichzeitig waren sie angreifbar und gebrochen, zu echter, ehrlicher Konfrontation unfähig.

Niemals deutete Richard von Weizsäcker auch nur an, daß sein Vater einer alliierten Siegerjustiz zum Opfer gefallen sein könnte, denn damit hätte er an die Machtkonstellationen gerührt. Er beharrte lediglich darauf, daß das Tribunal sich in diesem konkreten Fall geirrt hätte. Der Subtext der Heuchelei durchsetzte das politische Vokabular, bewirkte eine Zerstörung der Maßstäbe, des politischen Denkens und historischen Wissens, die durch einen rigorosen Moralismus ersetzt wurden.

Zweierlei aber blieb bestehen: der elitäre Herrschaftsanspruch sowie ein kulturelles und geschichtliches Mehr, das in der durchrationalisierten Verwaltungs- und Wirtschaftseinheit der Bundesrepublik nicht aufging. Wie die 2002 verstorbene Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff bis zuletzt als ostpreußische Magnatin auftrat, so ist Richard von Weizsäcker stets der grandseigneurhafte Enkel eines königlich-württembergischen Ministerpräsidenten und der schneidige Leutnant des adligen Infanterieregiments 9 („Graf 9“) geblieben. Hier eröffnete sich eine über die Bundesrepublik hinausweisende Dimension, die sich auch in der entschiedenen Parteinahme Weizsäckers für die Wiedervereinigung entäußerte.

In soziologischer Perspektive werden diese exklusiven, aus Amt und Würden längst ausgeschiedenen Eliten von ihren plebejischen Nachfolgern unter Hohngelächter verabschiedet. Angekündigt hatte sich das schon in der Berichterstattung über den sexuellen Mißbrauch an den von den Sprößlingen dieser Eliten frequentierten Privatschulen. Für die neuen, bundesrepublikanisch konditionierten Eliten sind die Schuldbekenntnisse, die die Weizsäckers, Dönhoffs und andere aus selbstsüchtigen Gründen erheuchelten, zu unhintergehbaren Gewißheiten geworden. Was den Vorgängern das Mittel zum Zweck war, bedeutet ihnen den Hauptzweck, dem niemand mehr entrinnen darf. Mit untrüglichem Instinkt erspüren sie die berechnende Maskerade ihrer Vorgänger, ohne einerseits über das Interesse, andererseits über das Wissen, die Begrifflichkeit und Empathie zu verfügen, um die politischen und historischen Gründe für deren Gebrochenheit zu erkennen. Das unfehlbare Mittel, das ihnen zu ihrer Delegitimierung zur Verfügung steht, ist der Nachweis von „Verstrickungen“ in den Nationalsozialismus. Die Art und Weise, in der die fällige moralische Entthronung der alten Eliten erfolgt, verschlimmert die Situation des Landes, anstatt sie zu klären und zu verbessern.

Der Übergangsmoment, in dem die öffentliche Heuchelei sich in staatlichen Zwang verwandelt, bietet denen die größten Chancen, die über die wenigsten Skrupel und die größte Brutalität verfügen. Der kometenhafte Aufstieg des Hallodris Joschka Fischer zum Chef des Auswärtigen Amtes und jetzt sogar zur neuen moralischen Instanz des Landes findet in dieser Konstellation seine Erklärung.

Und schließlich wird mit dem Auswärtigen Amt diejenige Institution getroffen, die immerhin noch rudimentär die Kontinuität eines deutschen Staatsethos verbürgte. Die Demontage seines Rufs trägt dazu bei, den Staat aus dem Geiste des Schuldbewußtseins neu zu begründen. Am Ende stellt die Bundesrepublik nichts weiter dar als das überwundene Deutschland.

Foto: Das Auswärtige Amt im Fokus einer Medienkampagne: Eine Mischung aus Vatermord-Lust, Sozialkomplexen und Egalitarismus

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