© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/10 05. November 2010

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Erinnerungslücken
Christian Dorn

Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) kann sich nicht mehr erinnern. Jedenfalls nicht daran, daß er im vergangenen Jahr Thilo Sarrazin nach dessen Interview in der Zeitschrift Lettre International vorgeworfen hatte, er habe mit seinen Äußerungen über Zuwanderer „alle Integrationsbemühungen der letzten fünf Jahre kapputtgemacht“.

Ort des Gedächtnisschwundes war am Montag die Landesvertretung Nieder-sachsens in der Hauptstadt, in die zum ersten „Forum Integration“ geladen war. Zusammen mit Aygül Özkan (CDU), der muslimischen niedersächsischen Landesministerin für Soziales, Familie, Frauen, Gesundheit und Integration, sah sich Rösler den Fragen des Publizisten Alexander Niemetz ausgesetzt. Wie dieser es vermied, Özkan auf ihre einstigen Forderungen nach einer „kultursensiblen Sprache“ in den Medien und einer Entfernung christlicher Kreuze aus den Schulen anzusprechen, so vergaß er auch, Rösler mit dessen eingangs zitiertem Verdikt zu konfrontieren, mit dem dieser – damals noch als niedersächsischer Arbeitsminister am Kabinettstisch des heutigen Bundespräsidenten Christian Wulff – im September 2009 auf das Sarrazin-Interview reagiert hatte, dem angesichts der Diskussion um dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“ fast vergessenen Vorspiel zur aktuellen Integrationsdebatte.

Stattdessen salbaderte Rösler nun über den Tatbestand der Political Correctness: Früher sei die entsprechende Diskussion eher „subkutan“ gewesen, weil die Leute gedacht hätten, man könne „darüber“ nicht reden. So ein Denken aber sei gefährlich, und er sei letztlich auch gar nicht sicher, ob es so etwas wie politische Korrektheit in Wirklichkeit gegeben habe.

Insofern das Buch von Sarrazin jedoch dazu beigetragen habe, über die Integrationsprobleme intensiver zu reden, sei die neue Situation gut. Daraufhin mit seinen Angriffen auf Sarrazin aus dem vergangenen Jahr konfrontiert, stritt der Gesundheitsminister plötzlich einschließlich seiner gesamten Entourage ab, jemals die pressenotorischen Anwürfe gegen Sarrazin geäußert zu haben. Sowenig es diese also gibt, sowenig – so Röslers Auskunft – gebe es wissenschaftlich belastbare Zahlen über Integrationsverweigerer. Von deren Ausweisung hält er sowieso nichts, weil dies nicht rechtsstaatlich wäre. Zudem sei die Sanktion der Abschiebung nicht zielführend, da es ja auch deutsche Kinder mit Sprachdefiziten gebe, und die könne man schließlich nicht ausweisen. Für ein gelungenes Beispiel hält er indessen die Schar der Anwesenden: „Heute sind allein 50 Integrationslotsen hier!“ Währenddessen betont Özkan die Vorzüge der türkischen Gemeinde in Deutschland  auf ganz persönliche Weise: „Nehmen Sie mich, davon gibt’s ganz ganz viele!“

Rösler, der Mitglied des Zentralrats der Katholiken ist, will dahinter nicht zurückstehen. Mit Blick auf Özkans Eidesformel zur Amtseinführung („So wahr mir Gott helfe“) – in der sie freilich als Muslimin auf Allah und nicht auf den christlichen Gott rekurrierte – resümiert nun Rösler allen Ernstes: „Da haben wir ja schon einmal einen Gott.“

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