© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Umwelt
Goethe und die Farben
Michael Manns

Wer heute mit seinem Kind in einem Spielzeuggeschäft einen Farbkasten kauft, wird wohl kaum naturphilosophische Fragen anstellen, was Farben eigentlich sind. Doch darüber wurde einst erbittert gestritten. Ausgangspunkt war ein Buch Goethes: „Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein“, offenbarte er Eckermann in seinen berühmten Gesprächen. „Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute.“ Hintergrund ist die klassische Physik, die durch Isaac Newton im 17. Jahrhundert entwickelt wurde. Goethe bekämpft diese rechnerische, kausale Betrachtungsweise, die durch ihre Experimente der Natur Gewalt antue. Der Engländer hatte das Licht der Sonne mit einem Prisma in die Farben des Regenbogens zerlegt und erklärt, daß es nur aus verschiedenen Farbanteilen bestehe.

„Die Sehnsucht nach ganzheitlicher Betrachtung bleibt – in Medizin wie Naturwissenschaft.“

Goethe dagegen: Alle Farben entstehen erst durch das Zusammenspiel von Licht und Finsternis. Man könne weißes Licht nicht in verschiedene Farben zerlegen. Goethe warf Newton sogar vor, schlampig gearbeitet zu haben. Es ging ihm dabei aber um mehr. Der Dichterfürst plädierte für eine andere Naturwissenschaft. Eine, die nicht zergliedert und reduziert (Formeln waren für ihn „Hexerei“), sondern eine, die die Natur ganzheitlich betrachtet. Er wollte keinen kalten, unpersönlichen, qualitätslosen Raum, in dem materielle Teilchen nach mathematisch berechenbaren Gesetzen tanzen. Mit Newtons Physik kann man Raketen auf den Mars schießen. Doch der Sieg des mechanistischen Weltbildes ist keineswegs total. Die Sehnsucht nach ganzheitlicher Betrachtung bleibt virulent: Ob in der Medizin oder im Umgang mit der Natur. Selbst Quantenphänomene (JF 40/10) lassen offenbar holistische Eigenschaften erkennen.

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