© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Amnestia war oft der Garant für den Frieden
Der Althistoriker Christian Meier hält einen Schuldkult mit Verweis auf die Antike für nicht hilfreich
Heino Bosselmann

Schon der Titel von Christian Meiers neuer Schrift „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“ relativiert eine Geschichtsdidaktik, die zur Leitlinie der Bundespolitik wurde, nicht zuletzt deswegen, weil – so die gern wiederholte Phrase – die Welt und Europa es angesichts der schlimmen deutschen Vergangenheit so und nicht anders erwarten. Genau um diese „schlimme Vergangenheit“ geht es dem verdienten Althistoriker, dem bislang nur deswegen keine betroffene Entrüstung entgegenschlagen dürfte, weil er die überfällige Revision eines Stereotyps von „Vergangenheitsbewältigung“ mit profunder Gelehrsamkeit und einleuchtender Argumentation betreibt. Populismus, das neue Pauschalverdikt gegen die Freiheit der Andersdenkenden, läßt sich ihm gerade nicht unterstellen.

Eingangs werden zwei Varianten des Umgangs mit Schuld einander gegenübergestellt, einerseits Roman Herzogs Rede von der Erinnerung, die nie enden darf, sondern mahnen muß, zum anderen ein Urkundentext des Jahres 851, in dem gerade umgekehrt verlangt wird, „daß aller vergangenen Übel eine Tilgung geschehe und daß all dies aus unsern Herzen gründlich herausgerissen werde mitsamt aller Bosheit und allem Groll“. Meier weiß um den provokanten Gegensatz dieser Aussage zu Weizsäckers Merksatz, daß jener, der sich nicht erinnern will, „wieder anfällig wird für neue Ansteckungsgefahren“.

Dementgegen spürt er einer starken Traditionslinie nach und erkennt: Um den Preis des Friedens kommen Mensch und Gesellschaft nach schlimmen Freveln letztendlich nicht daran vorbei, die schlimmen Ereignisse ruhenzulassen und gerade nicht permanent aufzurufen. An die Bestrafung der Hauptschuldigen schloß sich historisch oft ein Gebot des Nicht-Erinnerns, das persönliche und parteiliche Rache verhinderte.

Schweig, erinnere nicht das Schlimme! In diese Wendung bei Aristophanes gerinnt das Bedürfnis der Griechen, in ihren Poliskonflikten und nach dem Peloponnesischen Krieg Frieden erreichen zu können und nicht neuerlichen Bürgerkrieg zu riskieren. Der Begriff der Amnestia, der Nicht-Erinnerung, der Amnestie also, hat hier seinen Ursprung. Meier weist nach, daß den Griechen das friedliche Zusammenleben das höhere Gut gegenüber der Herstellung einer vermeintlichen Gerechtigkeit war, die oft genug nur in Rache oder Ausgrenzung bestünde.

Es mögen sehr alte Erfahrungen sein, die dann in Mittelalter und Neuzeit ein Bewußtsein zu seinem Recht kommen ließen, das Schuld und Vergebung noch als Einheit verstand. Schuldanerkennung forderte gerade unter christlichen Auspizien die Vergebung. Mit Kant: „Daß mit dem Friedensschluß auch Amnestie verbunden ist, liegt schon im Begriffe derselben.“ Der Autor führt dafür zahlreiche Beispiele an und deutet die Phänomene nicht zuletzt psychologisch, wenn er nachweist, daß eine Realisierung schwerer Schuld und rundum befriedigender Sühne gerade vor dem Hintergrund rabiater staatlicher Verbrechen ohnehin kaum möglich wären. Daß der Versailler Vertrag mit den Grundsätzen der Vergebung und des Beschweigens bricht, stellt Meier als harte Zäsur heraus und zeigt, welches Unheil gerade daraus entstand.

Erinnerung für politische Zwecke instrumentalisiert

Ohne an deutscher Schuld und deutschen Verbrechen in der Zeit des Dritten Reiches etwa deuteln zu wollen, nimmt Meier jedoch die Deutschen der Nachkriegszeit gegen den 68er-Vorwurf der „Unfähigkeit zu trauern“ in Schutz. Sie hätten 1945 die von den Mitscherlichs verlangte Trauerarbeit gar nicht leisten können, denn „sie wären sonst massenhaft in Melancholie verfallen, und das hätte sie lebensunfähig gemacht“. Der für seinen „Schlußstrich“ geschmähte Adenauer steht für Meier durchaus in guter Tradition der friedenstiftenden Amnestie, wenn seine Regierung dazu entschlossen war, nach der Bestrafung der Haupttäter, „das Vergangene vergangen sein zu lassen“. Daß damit einiges fehllief, bedingte aber doch Neubeginn, Verständigung und staatliches Funktionieren, Normalität eben, was nach dem politischen und moralischen Zusammenbruch nicht selbstverständlich war.

Obwohl Meier mit Blick auf die Nachkriegsjahre das Hinhalten der Opfer und das Breitmachen von ehemaligen Größen aus der Zeit des Nationalsozialismus beklagt, fragt er sich, „ob der Gesellschaft in den ersten Jahren der Bundesrepublik etwas anderes übrigblieb, als in dieser Situation zunächst einmal abzuschalten, sich taub zu stellen und das Geschehene zu beschweigen“. Dies gerade deswegen, weil die Verbrechen so außerordentlich groß und insofern emotional kaum faßlich waren. Meier, dem die wahnwitzigen Verbrechen der Geschichte bewußt sind, fragt skeptisch an, ob diese durch die verordnete „Erinnerungskultur“ überhaupt in sinnvoller Weise „verarbeitet“ und „bewältigt“ oder doch nur für politische Zwecke instrumentalisiert werden können.

Gerade weil die Situationen von 1945 und 1989 nicht vergleichbar sind, erscheint zudem der Wunsch der neuen Vergangenheitsbewältiger, es mit Blick auf die Verfolgung von DDR-Schuldigen „diesmal besser zu machen als 1945“, ziemlich verpeilt, die hauptsächliche Konzentration auf die Stasi-Unterlagen zudem fatal. Zwar habe man so eine Menge kleiner Stasi-Mitarbeiter und Denunzianten aufgedeckt und sie von Stellungen und Mandaten ausgeschlossen, dabei aber mit zweierlei Maß gemessen, weil man weitgehend die in Ruhe ließ, die sich der Stasi als Instrument bedient hatten.

Mit der Wiedervereinigung bildete sich zudem „eine zweite Front, in der Alt-Bundesbürger ihre neuen Mitbürger beargwöhnten“. So sahen sich die Deutschen in der früheren DDR, denen Meier im zweiten Teil des Buches eine kluge und erhellende Mentalitätsstudie widmet, allzu sehr nur mit dem Staat identifiziert, dessen sie sich gerade entledigt hatten. Die Öffnung der Stasi-Akten habe der einer Pandora-Büchse geglichen, denn so konnte die Stasi quasi mit ihren alten Papieren Rache nehmen und neu erforderte Solidarität aushöhlen. Ein Verzicht „auf das Ausbreiten von Schrecklichkeiten“ hätte dagegen den Neuanfang befördern können.

Foto: Karyatiden des Erechteion, Akropolis in Athen: Friedliches Zusammenleben nach dem Krieg war ein höheres Gut als historische Gerechtigkeit

Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Siedler Verlag, München 2010, gebunden, 160 Seiten, 14,95 Euro

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