© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Die verschwundene Armee
Gab es in Lothringen 1945 einen Massenmord an ukrainischen Gefangenen?
Björn Schumacher

Seit September 2003, zuletzt am 12. September 2010, veranstaltet die Orthodoxe Ukrainische Gemeinde Frankreichs Gedenkfeiern auf einem halb verwilderten Gelände im ostlothringischen Johannis Bannberg (Ban Saint Jean, Département Mosel-le). Was verbirgt sich dahinter?

Mitte der 1930er Jahre als französischer Kasernenkomplex errichtet, fungierte „Stalag (Stammlager) XII G Johannis-Bannberg“, eine Außenstelle des Stalag Forbach/Lothringen, seit 1941 als Sammellager der Wehrmacht für sowjetische Kriegsgefangene. Die Kapazität lag nach Zeugenaussagen bei etwa 4.000 Gefangenen. Sie kamen vorwiegend zur Zwangsarbeit in die Montanindustrie Lothringens und des angrenzenden Saargebiets. Verstorbene wurden unter dem orthodoxen Kreuz des Lagerfriedhofs von Johannis Bannberg bestattet.

SS-Freiwilligenregimenter galizischer Ukrainer

Die Zahl der Toten wurde nach dem Abzug der Wehrmacht im November 1944 von der Zeitung Courrier de Metz mit 5.000 bis 6.000 und von der französischen Regierung nach einer – Anwohnern zufolge unzureichenden − Grabung 1979/80 mit 2.879 beziffert. Die Toten sollen auf einen Pariser Soldatenfriedhof umgebettet worden sein. Weitere Nachforschungen, insbesondere durch die ukrainische Gemeinde, ließ die Regierung trotz anhaltender Gerüchte um höhere Zahlen offenbar nicht zu. Sämtliche Lagergebäude wurden abgerissen.

Solche Gerüchte kursierten erstmals nach der Öffnung eines großen, schachbrettartigen Gräberfelds im November 1945. Dies geschah auf Betreiben einer französisch-sowjetischen Militärdelegation ohne Einschaltung des Internationalen Roten Kreuzes oder sonstiger neutraler Beobachter. Die Regionalzeitung Republicain Lorrain berichtete danach von 22.000 in Ban Saint Jean „exhumierten“ Sowjetsoldaten. Die Pariser Presse nahm die Steilvorlage auf und beschwor die Existenz eines nationalsozialistischen Vernichtungslagers in den Dimensionen von Auschwitz oder Buchenwald.

Allerdings griffen weder französische noch alliierte Ankläger die Causa Johannis Bannberg auf. Sie spielte auch in der offiziellen Erinnerungskultur des Landes, die mit Verurteilungen des NS-Staats keineswegs sparsam umgeht, nie eine Rolle. Dennoch sind die Ukrainer, die das Gräberfeld aufgrund eines französisch-sowjetischen Pachtvertrags bereits von 1946 bis 1979 pflegten, vom Vorliegen eines Kapitalverbrechens überzeugt. Auf einem 1979/80 − von französischen Stellen? − abgeräumten Gedenkstein stand: „Hier ruhen 22.000 Ukrainer, Opfer des Krieges 1939–1945.“ Ähnlich klingt es bei den aktuellen Gedenkfeiern, die auch an die Millionen ukrainischer Opfer der von Stalin bewußt herbeigeführten Hungersnot der Jahre 1932/33 (Holodomor) erinnern.

Warum halten französische Ukrainer an der Zahl 22.000 fest? Was macht sie so sicher, daß es sich um Landsleute handelt? Haben sie Informationen darüber, daß diese Landsleute von Wehrmachtsangehörigen getötet worden sein könnten? Von einer vagen „Verantwortlichkeit der Wehrmacht“ ging auch Der Spiegel nach einer Befragung der Zentralen Stelle der Justizverwaltungen in Ludwigsburg aus (Schreiben an einen Hobbyhistoriker vom 2. Juli 2003). Belastbare Argumente für solche Thesen sind aber nirgendwo zu sehen. Warum sollten Gefangene ermordet werden, die man zur Zwangsarbeit in kriegswichtige Betriebe schickt? Die meisten Toten dürften an Entkräftung oder nachfolgenden Erkrankungen verstorben sein. Erinnert sei an den strapaziösen Transport der Sowjetsoldaten von der Ostfront in den damals westlichsten Teil des Reichs. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben Wehrmachtsangehörige, von denkbaren Ausnahmen abgesehen, keine Kriegsverbrechen in Johannis Bannberg verübt.

Folgerichtiger, wenngleich ebenso spekulativ klingt die These, in dem Gräberfeld lägen Tausende im Sommer 1945 auf Betreiben Stalins getöteter Ukrainer (sofern sie nicht Ende 1945 oder 1979/80 umgebettet wurden). Verfechter dieser These verweisen darauf, daß für Johannis Bannberg im Sommer 1945 erstaunlicherweise keine konkrete Lagernutzung nachgewiesen ist, während das französische Militär andernorts jeden Raum zur Bedarfsdeckung benötigt habe.

Vor allem aber berufen sie sich auf Wolf-Dietrich Heike („Sie wollten die Freiheit“, 1987) und Pavlo Shandruk („Arms of Valor“, 1959). Danach habe die Waffen-SS 1944 zwei Freiwilligenregimenter galizischer Ukrainer aus den Lothringer Stammlagern der Wehrmacht rekrutiert. Im April 1945 sei der an der Ostfront kämpfende, exakt 22.000 Mann starke Gesamtverband in Ukrainische National-Armee umbenannt worden. Auf ihrer Flucht vor Stalins Rotarmisten seien 8.000 galizische Ukrainer im Mai 1945 südlich des Tauernpasses von den Briten gefangengenommen und in Rimini interniert worden, hätten jedoch 1947 nach Großbritannien, Kanada und in die USA ausreisen dürfen. Der restlichen Ukrainischen National-Armee sei die Flucht über die Tauern nach Österreich gelungen, wo sie in US-Gewahrsam gelangt sei. Dennoch fehle von mindestens 10.500 dieser Waffen-SS-Kämpfer jede Spur.

Ein Geflecht aus Tatsachen und dubiosen Gerüchten

Daß 10.500 in westalliierte Gefangenschaft geratene Kämpfer plötzlich verschwunden sein sollen, erscheint auf Anhieb kaum vorstellbar. Unterstellt man diese Angabe dennoch als wahr, dann könnten vor allem zwei Aspekte die USA veranlaßt haben, die Waffen-SS-Leute in ihre Lothringer Stammlager zurückzubringen. Zum einen könnte man erwogen haben, ohne große organisatorische Probleme deren Beteiligung an etwaigen Kriegsverbrechen an der Ostfront zu überprüfen. Zum anderen dürften die Amerikaner vermutet haben, die galizischen Ukrainer seien in Ban Saint Jean vor Stalins Rache in Sicherheit.

Dieses Geflecht aus Tatsachen, dubiosen Gerüchten und daraus resultierenden Folgerungen wird sich schwerlich ganz auflösen lassen. Das sollte eine seriöse, ohne Tabus und Scheuklappen agierende Geschichtswissenschaft aber nicht daran hindern, die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte der Lothringer Wehrmachtslager noch einmal systematisch aufzugreifen.

Foto: Ukrainische SS-Freiwillige im westgalizischen Sanok, Generalgouvernement 1943: Es fehlt jede Spur

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