© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Widerstand gegen den Parteienstaat
Gelenkte Demokratie
von Klaus Hornung

Die Staatsaffäre um Thilo Sarrazin hat schlagartig die Entfremdung zwischen dem Establishment in Politik, Wirtschaft und Medien und weiten Teilen der Bevölkerung enthüllt. Diese Entfremdung schwelte in Deutschland schon lange untergründig und manifestiert sich inzwischen in der Krise des Parteienstaates. Während die Union bei der Bundestagswahl des Vorjahres über zwei Millionen Wähler verlor, mußte die SPD feststellen, daß ihre Mitgliederzahl seit 1976 – als sie noch über eine Million betragen hatte – um die Hälfte geschrumpft war. Die Wahlbeteiligung hat insgesamt rapide abgenommen.

Eine kluge Politik hätte diese Alarmzeichen als Ausdruck des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung begriffen, der durch das Scheitern der „Agenda 2010“ und die milliardenschweren Rettungsaktionen des Euro und der Banken entstanden war und weil die Menschen sich vor allem bei der Masseneinwanderung von der Politik seit langem überfahren fühlen. Die deutschen Parteien haben sich zudem selbst in den letzten Jahrzehnten beträchtlich verändert – weg von ihrer im Grundgesetz formulierten „Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes“ (Art. 21) hin zu der Praxis ihrer Dominanz.

Seit dem Parteiengesetz von 1967 hatten sie und die Parlamentsfraktionen sich schrittweise eine finanzielle Ausstattung aus öffentlichen Mitteln zugelegt, die ihnen im Vergleich mit den Parteien der meisten anderen Länder eine geradezu schlaraffenlandartige Existenz ermöglicht. Mittels Ämterpatronage haben sie ihren Einfluß auf weite Teile des Staates, der Verwaltung und der Gesellschaft ausgedehnt und sich diese „zur Beute“ gemacht (Hans Herbert von Arnim).

Gleichzeitig vollzog sich die Erosion der innerparteilichen Demokratie und die Etablierung der Partei- und Fraktionsführungen als einer zunehmend selbstbewußten politischen Kaste, einer „Nomenklatura“, die die wesentlichen Entscheidungen in engen Zirkeln trifft und dem Parteivolk den „Leerlauf des Dabeiseins“ – so der einstige SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Lohmar – und scheinbarer Mitbestimmung überläßt.

Selbst ein altgedienter Parteisoldat wie Jürgen Rüttgers hat schon 1993 in seinem Buch „Dinosaurier der Demokratie“ selbstkritisch festgestellt, daß die Parteien insgesamt von Bürger- zu Gremienparteien geworden sind und ihre Machtausweitung nicht etwa ihre Fähigkeit zur Problemerkennung und -lösung verstärkte, sondern mehr und mehr schwächte. Die Entwicklung zum abgehobenen Parteienstaat wurde immer deutlicher, als sich die berüchtigte Political Correctness in der Bundesrepublik ausbreitete und beträchtliche Teile der Medienlandschaft begannen, mit diesem Instrumentarium des Meinungsdrucks und der Gleichschaltung selbst Politik zu machen. Seit den siebziger Jahren mehrten sich im Namen der Political Correctness die Kampagnen gegen Politiker, die sich dem Schwenk der veröffentlichten Meinung in der Bundesrepublik hin zu einer linksliberal-antifaschistischen Leitideologie widersetzten.

Die Parteien haben die Demokratie unterwandert und zum Parteienstaat umfunktioniert. Mit Hilfe der Political Correctness gelang es, eine linksliberal-antifaschistische Leitideologie durchzusetzen. Das politische System verschob sich nach links.

Die Political Correctness entwickelte insbesondere eine Geschichtspolitik, die die deutsche Zeitgeschichte zu „gegenwärtigen politischen Zwecken“ mißbraucht. Dieser Strategie gelang es 1978, den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger durch eine konzertierte mediale Rufmordkampagne zum Rücktritt zu zwingen; gleiches gelang zehn Jahre später, als Bundestagspräsident Philipp Jenninger durch eine bewußt fehlinterpretierte Rede im Bundestag zum Gedenken an den 9. November 1938 zum Rücktritt gezwungen wurde.

Bei beiden Rücktritten spielte die betroffene CDU eine reichlich beschämende Rolle, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, der linken Agitation mit überzeugenden Argumenten entgegenzutreten. Diesen Kampagnen gelang es, die CDU in die Defensive zu drängen, ihre Mitglieder und Wähler zu irritieren und das bisherige politische Koordinatensystem der Republik nach links zu verschieben. Die mangelnde Solidarität der CDU-Führung mit ihren angegriffenen Politikern sollte das Prestige der Partei dauerhaft schädigen. Die Entfremdung der Bürger und Wähler gegenüber dem Parteienstaat nahm damals ihren Anfang.

Einen nachhaltigen Schub in dieser Entwicklung brachte – paradox genug – die Wiedergewinnung der deutschen Einheit 1989/90. Schon mitten im Zusammenbruch der DDR hatte Gregor Gysi bei einer Massenkundgebung der SED/PDS am 4. Januar 1990 vor dem sowjetischen Siegesdenkmal in Berlin-Treptow die Parole einer „antifaschistischen Einheitsfront gegen rechts“ proklamiert, die wohl erfolgreichste politische Kampfparole der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zunächst noch zur Rettung der DDR gedacht, wurde sie nach 1990 rasch von der gesamtdeutschen Linken offensiv aufgenommen, um den antitotalitären Konsens aller politischen Kräfte von 1949 durch eine antifaschistische Leitideologie im wiedervereinigten Land zu verdrängen.

Ihren ersten Erfolg erzielte sie mit der Kampagne im Jahr 1993, als die Kandidatur des sächsischen CDU-Politikers Steffen Heitmann zum Bundespräsidenten erfolgreich verhindert wurde. Insbesondere die bürgerlichen Parteien ließen alle diese Kampagnen und die damit verbundenen politischen Kräfteverschiebungen blind und träge gewähren. Die rot-grüne Regierung heizte sie im Hochgefühl ihres Wahlsieges von 1998 noch an. Gerhard Schröder rief als Bundeskanzler im Jahr 2000 zum „Aufstand der Anständigen“ (JF 41/10) auf, und die Massen wurden zu Großdemonstrationen mitsamt den berüchtigten Lichterketten mobilisiert.

Der nachdenkliche Dissident aus der DDR, Reiner Kunze, mußte im wiedervereinigten Land „eine gedankenlose Ideologisierung des geistigen Lebens“ konstatieren. Während die politische Klasse selbstzufrieden vom „freiesten Staat der deutschen Geschichte“ sprach, vollzog sich ein Wandel von der freiheitlichen und pluralistischen Demokratie des Grundgesetzes zu einer parteienstaatlich gelenkten Demokratie, deren linksliberal-antifaschistische Leitideologie über die demokratische Rechtgläubigkeit zu entscheiden beansprucht.

Inzwischen häufen sich die Beteuerungen unserer Politiker über die angebliche „Alternativlosigkeit“ bestimmter politischer Entscheidungen. Töne, die deutlich werden lassen, daß in der gelenkten Demokratie, in der wir inzwischen leben, die Meinungen und Urteile der Mehrheit nicht mehr wirklich gefragt sind. Das deutet auf einen weiteren Faktor hin, der in der Politik unserer Tage wirksam geworden ist, den Einfluß der internationalen politökonomischen Kommandohöhen des Globalisierungsprozesses auf die Politik der Staaten.

Wilhelm Röpke hatte schon bald nach dem Krieg hellsichtig von dem „Caesaro-Ökonomismus“ des Weltsystems gesprochen, um die Stärke seines Macht- und Einflußpotentials anzudeuten. Der speziellen deutschen linksliberal-antifaschistischen Leitideologie tritt auf der globalen Ebene, nur auf den ersten Blick widersprüchlich, eine eigenartige „Allianz von Jakobinern und Chicagoboys“ (Harald Seubert) zur Seite, in der die einen in Kulturleben und Medien die ideologischen Prinzipien universalen Fortschritts liefern und die anderen mit ihrer politischen Umsetzung in Ökonomie und Politik befaßt sind.

Die Entfremdung zwischen Volk und politisch-medialem Komplex in der gelenkten Demokratie ruft Gegenkräfte hervor:  Bürger wehren sich gegen den EU-Zentralismus ebenso wie gegen Allparteienkartelle in der Bildungspolitik.

Die Leitidee der Globalisierung ist nun einmal die prinzipielle Aufhebung der politischen und kulturellen Grenzen in einem globalen Markt von Produzenten und Konsumenten, die Einschmelzung der Kulturen, Religionen und Ethnien in einer universalen Einheitskultur und die Umwandlung der Staaten zu regionalen Agenturen der global agierenden politökonomischen Machtkomplexe. Die Gegenkräfte des Föderalismus, der Kulturen und Regionen, der Subsidiarität und der politischen Kontrolle sollen als Störpotential marginalisiert und ausgeschaltet werden.

Dabei bleibt diese Art moderner gelenkter Demokratie vereinbar mit formal demokratischen Institutionen und Verfahren wie dem Mehrparteiensystem und periodischen Wahlen. Man vertraut jedoch auf die vielfältigen ideologischen und medialen Beeinflussungsmöglichkeiten der „außengeleiteten“ zeitgenössischen Menschen in der Massengesellschaft (David Riesman). Die Europäische Kommission in Brüssel erscheint aus der Sicht des globalen Establishments geradezu als ideales Modell politisch-ökonomischer Führungsorganisation in der fortschrittlichen und gelenkten Demokratie in unserer Zeit.

Die Entfremdung zwischen „den Menschen“ (Angela Merkel) und den Führungsgruppen in Wirtschaft, Politik und Medien ist heute ein weltweites Thema. Sie galt in den autoritären Herrschaftssystemen etwa Chinas, Rußlands, der islamischen Welt, in Afrika und Lateinamerika schon immer. Neu ist, daß dieses System autoritärer, gelenkter Politik inzwischen auch in der atlantisch-europäischen Welt damit begonnen hat, das Erbe der freiheitlichen Demokratie zu zersetzen.

Aber auch die Gegenentwicklung ist in unseren Tagen zu beobachten: das geschichtliche Gesetz, daß Machtballung stets Gegenmacht auf den Plan ruft. Es ist heute längst wirksam in der Entwicklung von der einstigen bipolaren Welt des Ost-West-Konflikts über die kurze Ära der USA als „einziger Weltmacht“ zur weltpolitischen Multipolarität der nahen und fernen Zukunft.

Selbst in der sich immer zentralistisch-globalistischer gebärdenden Europäischen Union melden sich die Gegenkräfte inzwischen vernehmlich zu Wort. Die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gegen die EU-Verfassung haben den Protest gegen Zentralismus und Bevormundung deutlich gemacht.

Gleiches gilt etwa für die jüngsten Parlamentswahlen in den Niederlanden und Belgien mit neuen Mehrheiten, die dem bisherigen Establishment nicht ins Konzept passen. Auch regionale Vorgänge wie die Hamburger Volksabstimmung gegen die Bildungspolitik eines Allparteienkartells oder der Konflikt um das Verkehrsprojekt „Stuttgart 21“ zeigen, wie sich selbst in den deutschen Landen die Kräfte zu formieren beginnen, die gegen die Umformung der repräsentativen Demokratie in autoritär-bevormundende Politik den Anspruch auf breitere Mitwirkung an wesentlichen Entscheidungen für das Gemeinwesen anmelden.

Offensichtlich ist inzwischen zu vieles zusammengekommen, was den Widerstand in der Bevölkerung begründet. Die Einwanderungspolitik, die Europa-, Finanz- und Bankenpolitik haben den Bürgern in der letzten Zeit zuviel zugemutet, um einfach zur Tagesordnung übergehen zu können, wie sich die Führungszirkel um Angela Merkel das so vorstellen mögen. Die altbekannten Methoden der Ächtung der Widersprechenden bis hin zur Kriminalisierung der Dissidenten haben sich offensichtlich totgelaufen.

Freilich hat man bis jetzt noch kaum ein Wort vernünftiger Selbstkritik aus den Reihen der Regierenden vernommen. Nichts deutet darauf hin, daß die politische Klasse erkennt, daß die parteienstaatlich gelenkte Demokratie nicht etwa ein Königsweg, sondern eine Fehlentwicklung ist, die so entschieden wie möglich korrigiert werden muß.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung, Jahrgang 1927, lehrte bis zur Emeritierung 1992 Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über die islamische Expansion in Europa (JF 30/10).

Foto: Demokratie als Marionettenspiel: Mit Abraham Lincolns Ideal von der Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk hat der heutige Parteienstaat nichts mehr zu tun. 

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