© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Der erschossene Jesus
Reportage: Kirchenbau und Jodlerklub – die vergessenen Deutschen im galizischen Kolomea
Lubomir T. Winnik

Der weiße Citroën schwimmt förmlich von einer riesigen Wasserlache zur anderen. Stöhnend und krächzend klettern die verschlammten Räder auf ein Stück Trockenboden, um bald danach wieder einmal bis an die Achsen im gelben Naß zu verschwinden. Die „Straße“ ringelt sich nicht im Dschungel des Amazonas, sondern in der Ukraine und ist schnurgerade und umgeben von endlosen Feldern.

Wir sind am Ziel. Ein Kirchlein, gebaut aus rotem Backstein, steht buchstäblich mitten im Nichts, rechts von der Straße. Nur einzelne Häuser sind hie und da zu sehen, sonst leere Flur, üppig verwachsen mit dichtem Gebüsch und meterhohen Wildgräsern.

Der Deutsche Verein zählt sechzig Mitglieder

Kaum zu glauben, daß hier noch vor 60 Jahren das Leben pulsierte, überall standen putzige Siedlungen, Schulen und Kirchen der großen deutschen Kolonie von Kolomea, einer ostgalizischen Stadt, die zur Zeit der k.u.k. Monarchie öfters und höchstpersönlich von dem „Allerhellsten“, so pietätvoll spricht man hier bis heute noch über den Kaiser von Österreich, besucht wurde. Heute breitet sich eine triste Einöde aus. Wohin sind denn die Dörfer Mariahilf, Flehberg, Rosenheck, Baginsberg, Slawitz, Sewerynowka, Winzentuwka verschwunden. Was passierte hier? Ein Erdbeben?

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Sowjets diese restlos zerstört. Diejenigen Kolonisten, die nicht nach Rußland verschleppt wurden, setzten sich 1939 und 1944 nach Deutschland ab. Auch die 1853 gebaute Mariahilf-Kirche jagten die Russen dann im Jahr 1946 in die Luft. Ihre Überreste wurden verscharrt. Von den Deutschen blieb keine Spur übrig.

Sinowij Schmidl, der Präsident der deutschen Gemeinde zu Kolomea (ukrainisch Kolomya), schlägt energisch die Tür zur Kirche auf, wir betreten den kleinen, sauberen Raum. Ordentliche Holzbänke, Gebetsbücher, Altar, alles wie in einer richtigen Kirche. Altar? Was ist da los, mit dem gekreuzigten Jesus? Nach der Zerstörung des Gotteshauses haben sich die Soldaten damit amüsiert, auf ihn zu schießen, kommentiert Schmidl gefaßt die Frage. Dies ungeachtet dessen, wie sehr ergreifend der „erschossene“ Jesus wirkt. Die brutalen Löcher, welche die Kugeln verursacht haben, klaffen in seinem Gesicht, an der Brust und den Beinen. Der linke Arm ist gar nicht mehr da.

Nachdem die Ukraine unabhängig wurde, erklärt Schmidl weiter, begannen wir die Kirche zu suchen. Als die Erdschicht abgetragen wurde, fanden wir diesen Jesus vom früheren Eichenkreuz, der vor der Kirche stand. Das mit finanzieller Hilfe der Galiziendeutschen aus Deutschland gebaute Kirchlein ist um ein Viertel kleiner als die frühere Kirche, deren freigelegte farbige Kachelböden  um das Haus herumreichen.

Die meisten Deutschen kamen im 19. Jahrhundert aus dem Böhmerwald, beziehungsweise aus dem Sudetenland in das Gebiet von Kolomea. Auch die Vorfahren von Sinowij Schmidl ließen sich anno 1811 hier nieder. Sie waren gefragte, tüchtige Handwerker, die es binnen kurzer Zeit zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatten. Die deutschen Siedler lebten im friedlichen Nebeneinander mit den hiesigen Juden, Polen und Ukrainern. Davon zeugt Kolomea noch heute, deutlich sichtbar in Gestalt von Gotteshäusern der verschiedensten Konfessionen, die restauriert, wieder oder gar neu gebaut werden. In Kolomea selbst leben noch fünf bis sechs Familien, die sich zum Deutschtum bekennen. Der Deutsche Verein zählt hingegen über sechzig Mitglieder. Im Gebiet Stanislau (Iwano-Frankiwsk) leben um 2.000 und in der Ukraine landesweit über 20.000 Deutschstämmige. Ein Dachverband mit dem Namen „Die deutsche Wiedergeburt“ hat in den verschiedenen Landesteilen seine Filialen, so auch in Kolomea.

Eine seiner Vorfahrenlinien stammt aus dem Sudetenland, erzählt Sinowij Schmidl, die andere Ahnenlinie namens Waldmann führt in die Schweiz, nach Zürich. Ein Grund, warum die Schweiz ihn immer schon ungemein interessiert hatte. Und dann, dem Zufall sei Dank, klappte es mit dem Kontakt zu den Eidgenossen. Die Kolomäer Mitglieder des „Jodlerklubs Galizien“ waren im Jahr 2002 nach München zu einem Volksfest eingeladen worden. Dort lernten sie eine Musiklehrerin kennen, die sich gerade anschickte, mit ihrem Auto zum Eidgenössischen Jodlerfest nach Freiburg zu reisen. Die Kolomäer fuhren mit.

Die jungen Leute zieht es nach Deutschland

Seit jener Zeit besuchen sie regelmäßig alle Jodlerfeste. Auch nächstes Jahr in Interlaken (16.–19. Juni 2011) sind sie dabei. Das pikante: Nicht nur jodeln können sie, auch das Alphornspiel. Gegen drei Karpatentrembitas, – ein gerades, leichtes, fast drei Meter langes Horn – eingetauscht, kamen sie zu einem echten Alphorn. Das zweite Alphorn schnitzte ein Trembitabauer aus dem Karpatendorf Schepit. Es ist, schmunzelt Schmidl zufrieden, mit Abstand das einzige Karpaten-Alphorn der Welt.

Die amüsante Symbiose von Alphorn und Trembita steht nun ebenfalls im Firmenlogo Schmidls. Als Inhaber der Tourismusagentur „Galizien-Reisen“ (galizienreisen.ucoz.de) ließ er die zwei Wappenvögel vom Land Galizien – die Krähen – mit einem Alphorn und einer Trembita ausstatten. Voilà!

Es ist nicht leicht, hier in deutscher Kultur zu leben, obwohl die Deutschstämmigen weder mit Behörden noch mit der ukrainischen Bevölkerung Probleme haben, erklärt Schmidl, selbst Sproß einer ukrainischen Mutter und eines deutschen Vaters. Die vielen jungen Leute wandern aufgrund der Arbeitslosigkeit nach Deutschland aus oder passen sich vollständig der ukrainischen Umgebung an.

 Der Verein, der in Kolomea auch ein „Deutsches Zentrum“ besitzt, unterhält gute Beziehungen zu den Galiziendeutschen aus dem Kolomäer Gebiet, welche in Wolfsburg und Braunschweig ansässig sind. Auch die Stadt Kolomea selbst steht diesem Engagement positiv gegenüber. Man strebt sogar eine Städtepartnerschaft mit Wolfsburg an. 2009 besuchte Bürgermeister Jurij Owtscharenko mit Sinowij Schmidl Wolfsburg, um das Thema mit dem dortigen Bürgermeister zu erörtern. Sie wurden sehr freundlich empfangen, doch nennenswerte Abmachungen blieben vorerst aus. Man bleibe im Gespräch, hieß es diplomatisch.

Fotos: Sinowij Schmidl mit seinem Sohn auf dem Friedhof von Mariahilf: Dem Verfall entrissen, Mariahilfer Kruzifix: Im Erdreich gefunden,

www.galizienreisen.ucoz.de  www.gfe-odessa.org

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