© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Tagebücher des Grauens
Irak-Krieg: Internetplattform Wikileaks veröffentlicht US-Geheimdokumente / Feldberichte aus den Jahren 2004 bis 2009 zeigen den Alltag der Soldaten
Rolf Dressler

Wikileaks“ – auch dieses Schlagwort wird sich der Welt nun endgültig einprägen. Doch welche Schlüsse sind aus dem unvorstellbar riesigen Wust jener 400.000 Dokumente zu ziehen, die nach Angaben des Internetportals Wikileaks zigtausendfache Grausamkeiten und Morde an Kriegsgefangenen und hauptsächlich sogar an Zivilisten im Irakkrieg belegen sollen? Und vor allem: Wer schlägt daraus den höchsten politischen und propagandistischen Nutzen – zum einen auf dem explosiven nahöstlichen Terrain und zum anderen in der Washingtoner Machtzentrale der militärischen Schlüsselmacht USA?

Die von Wikileaks auf den Medienmarkt geworfenen Dokumente listen 109.000 Todesopfer für die Jahre 2004 bis 2009 auf, darunter mehr als 66.000 Zivilisten. Die übrigen Opfer irakischer Soldaten und Polizisten seien „Aufständische“ (23.900), Angehörige irakischer Regierungstruppen (15.100) sowie 3.771 Soldaten der von den USA geführten internationalen Kampftruppen.

„Mißstände aufdecken und Dokumente retten“

Die Wikileaks-Veröffentlichung hat die Staatsspitzen der USA bis ins Mark erbost. Offenkundig trifft Julian Assange, der ebenso schillernde wie abgebrühte Wikileaks-Gründer, sogar den US-Präsidenten Barack Obama an einem Urnerv. Zugleich schüttelt er damit das verschlungene Interessengeflecht zwischen dem Irak und dem Iran kräftig durch.

Dementsprechend gereizt bis hilflos klingen die Verlautbarungen auch der Stabschefs der US-Streitkräfte und des Pentagon, die „unverantwortlich schamlose Preisgabe gestohlener Geheimdokumente“ gefährde akut Hunderte Leben und liefere „den Feinden“ frei Haus wertvolle Informationen über Schwachstellen und militärische Strategien der internationalen Eingreiftruppen im Irak.

 Zwar weisen die Militärprotokolle, die aus dem US-Außenministerium entwendet und Wikileaks zugespielt wurden, augenscheinlich auch Fehler und Ungereimtheiten auf. Aber selbst das fällt jetzt kaum noch ins Gewicht. Ebensowenig wie das diebische Triumphgeheul des Wikileaks-Chefs Julian Assange. Der nämlich fühlt sich als schmählich verkannter und „verfolgter Kämpfer für die Wahrheit“ und gibt vollmundig vor, mit seinem Häuflein von lediglich drei Dutzend festen Mitarbeitern „die Weltpresse befreien, Mißstände aufdecken und Dokumente retten“ zu wollen, „die Geschichte machen“.

(Welt-)Politik, so sehen es sachkundige Beobachter, kann fortan wohl mehr und mehr auch über das Medium Internet beeinflußt, ja, sogar gesteuert und massenhaft manipuliert werden. Als ungewiß erscheint, ob der amtierende irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki nach nun schon mehr als sieben Monaten seit den Wahlen überhaupt noch eine arbeitsfähige Regierung zustande bringen wird. Denn viele der zigtausendfachen Folterungen, Vergewaltigungen und Mordtaten während der Bürgerkriegsjahre 2005 bis 2007, die von schiitischen Sicherheitskräften an Sunniten begangen wurden und nun in den bislang geheimen Dokumenten zutage traten, fielen in Malikis Amtszeit, die 2006 begonnen hatte. Derweil dürften sich die Machthaber in Teheran die Hände reiben. Sie profitieren allemal von einem desolaten Irak.

„Iraq War Logs“ von Wikileaks: www.wikileaks.org

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