© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Einladung ins Paradies
Einwanderung: Ein kaum beachtetes Urteil des Bundessozialgerichts zur Zahlung von Sozialhilfe an Ausländer könnte unabsehbare Folgen haben
Michael Paulwitz / Fabian Schmidt-Ahmad

Viele Wege sind denkbar, auf denen ein Land sich geräuschlos selbst abschaffen kann. Ein besonders effektiver könnte etwa so lauten: Interpretiere alle Gesetze und Rechtsnormen konsequent zum Nachteil des eigenen Volkes und des eigenen Staates; im Zweifelsfall suche entlegene Rechtsquellen und verstaubte Verträge, die geeignet erscheinen, um von anderen angemeldete Ansprüche zu stützen.

Fast könnte man meinen, das Kasseler Bundessozialgericht wäre bei seiner jüngsten Entscheidung nach dieser Maxime vorgegangen. Hinter dem Aktenzeichen B 14 AS 23/10 R verbirgt sich möglicherweise ein Urteil mit Sprengkraft. Denn Deutschlands oberste Sozialrichter haben in einer Präzedenzfallentscheidung bestimmten Ausländergruppen ein unbefristetes Recht auf den Bezug von Sozialhilfe zugestanden und sich dabei auf das fast vergessene „Europäische Fürsorgeabkommen“ (EFA) von 1953 gestützt.

Im konkreten Fall hatte ein französischer Staatsbürger erfolgreich die Auszahlung von Hartz-IV-Bezügen des Arbeitsamtes im Berliner Bezirk Mitte eingeklagt. Der heute 39jährige Mann war 2007 nach Berlin gekommen. Zunächst erhielt er Arbeitslosengeld I für drei Monate und anschließend – unterbrochen durch kurze Berufstätigkeiten – Hartz IV für weitere sechs Monate. Danach lehnte das Amt weitere Zahlungen ab.

Bisher galt nämlich, daß der Leistungsanspruch von Bürgern der Europäischen Union, die weniger als ein Jahr in Deutschland gearbeitet haben, auf einen Zeitraum von sechs Monaten zur Arbeitssuche begrenzt ist. Ob diese Vorschrift tatsächlich mit europäischem Recht vereinbar ist, gilt unter Juristen als umstritten.

Die Büchse der Pandora geöffnet

Das Bundessozialgericht hätte also im Grunde den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg anrufen müssen, um diese Frage zu klären. Der EuGH ist bekannt für seine notorisch zentralistische Rechtsprechungspraxis, die im Zweifelsfall bevorzugt gegen eigenständige nationale Regelungen entscheidet. Das Bundessozialgericht wählte also den vermeintlich eleganteren Weg der vorauseilenden Kapitulation und gab dem Kläger mit dem Rückgriff auf ein fast vergessenes Vertragsdokument recht.

Über das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 sichert jeder unterzeichnete Mitgliedsstaat zu, Bürgern der anderen Staaten „in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge“ zu gewähren. So heißt es hier, daß der Staat einen Ausländer, „der in seinem Gebiet erlaubt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit rückschaffen“ darf.

Aus Sicht der Richter handelt es sich bei dem Abkommen des Europarates „um unmittelbar geltendes Bundesrecht“, dem „weder vorrangig anzuwendendes anderes Bundesrecht noch Gemeinschaftsrecht“ entgegenstehe. Mit anderen Worten: Es gibt weder ein nationales noch ein EU-Gesetz, welches hier regulierend eingreifen könnte. Deutschland habe also keine rechtliche Möglichkeit, Bürgern eines Mitgliedstaates mit gültiger Aufenthaltserlaubnis den Zugang zu seinen Sozialsystemen zu verweigern.

Mit dieser brisanten Einschätzung hat das Bundessozialgericht freilich die Büchse der Pandora erst recht geöffnet. Denn das Urteil läuft nicht nur auf die faktische Annullierung der Bezugsbeschränkungen hinaus, die im Sozialgesetzbuch (SGB) II für den Bezug von Hartz-IV-Leistungen durch EU-Ausländer, die sich nur zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, festgelegt sind. Auch der Kreis der Anspruchsberechtigten wird drastisch ausgeweitet.

Zwar sind dem Fürsorgeabkommen von 1953 von den osteuropäischen EU-Neumitgliedern bislang nur die Esten beigetreten, und von den West-Mitgliedstaaten haben Österreich und Finnland das EFA nicht unterzeichnet. Dafür sind aber die Krisenstaaten Griechenland, Portugal und Spanien ebenso dabei wie die Nicht-Mitglieder Island und Norwegen, und vor allem: die Türkei. In Sachen Hartz IV haben daher „türkische Staatsangehörige in Deutschland mehr Rechte als Österreicher, Finnen oder Tschechen“, staunt ein Kommentator.

Wer also die Möglichkeit hat, sich legal in Deutschland niederzulassen, darf sich unbefristet zu den Segnungen des deutschen Sozialstaats eingeladen fühlen. Zwar besteht noch eine Visumspflicht für türkische Staatsangehörige, doch steht diese seit dem sogenannten Soysal-Urteil des Europäischen Gerichtshofs im vergangenen Jahr auf der Kippe. Auch damals argumentierten die Richter, daß ein Assoziierungsabkommen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Türkei, welches bereits 1973 in Kraft trat, die erst 1980 getroffenen bilateralen Abkommen Deutschlands zur Visumspflicht aufheben würden.

Hier aber verpflichteten sich die Mitgliedstaaten, „untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen“. Und im Zusatzprotokoll heißt es: „Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“ Noch sind die Folgen des Soysal-Urteils nicht abzusehen, da ist mit der jetzigen Entscheidung möglicherweise ein weiterer, schwerwiegender Schritt getan worden.

Auf einen uralten Rechtstext gestützt

Die Rechtsprechungspraxis des Bundessozialgerichts nährt begründete Zweifel an der prinzipiellen Vereinbarkeit von ungeregelter Einwanderung und hochgezüchtetem Sozialstaat. Die aktuelle Hartz-IV-Entscheidung ist auch keineswegs das einzige seltsame Urteil des Bundessozialgerichts zur großzügigeren Gewährung von Sozialleistungen an Ausländer. Voriges Jahr meldete das BSG beim Bundesverfassungsgericht Zweifel an der Praxis an, Ausländern mit bestimmten Aufenthaltstiteln anders als deutschen Leistungsberechtigten nur dann „Elterngeld“ zu zahlen, wenn sie tatsächlich arbeiten, Arbeitslosengeld I beziehen oder in Elternzeit sind.

Und im Juni 2008 erklärte das BSG, wenn ein Geduldeter nicht ausreise, obwohl er dazu in der Lage wäre, sei das „kein Rechtsmißbrauch“ und rechtfertige auch nicht die Verweigerung von höheren „Analogleistungen“ auf Hartz-IV-Niveau, die auch abgelehnten Asylbewerbern nach vierjährigem Aufenthalt in Deutschland zustehen. Eine der wenigen zaghaften Handhaben, geduldete Ausländer zur freiwilligen Ausreise zu bewegen, war damit stumpf gemacht.

Fragwürdig ist auch die Praxis, aus in den Kindertagen der europäischen Einigung unter ganz anderen Bedingungen geschlossenen Verträgen weitreichende Ansprüche für die Gegenwart abzuleiten. Als 1953 das Europäische Fürsorgeabkommen unterzeichnet wurde, war der Wiederaufbau noch in vollem Gange und das deutsche Sozialsystem nur bescheiden ausgeprägt. Kein einziges Gastarbeiteranwerbeabkommen war zu diesem Zeitpunkt ausgehandelt; daß Deutschland vor der größten Einwanderungswelle seiner Geschichte stehen könnte, war realistisch nicht absehbar.

Die Vertragspartner selbst scheinen das EFA längst vergessen zu haben; in dem Vertragswerk ist immer noch von dem längst abgeschafften Bundessozialhilfegesetz die Rede, die Bundesregierung hat dem Europarat die Arbeitsmarktreform von 2005 offenbar gar nicht nachgemeldet.

Mit einem solchen Uralt-Rechtstext neue Ansprüche mit unabsehbaren Folgelasten zu begründen mag dem Buchstaben nach legal sein, aber nicht legitim. Daß die europäische Rechtsprechung zu solcher Rabulistik neigt, ist bekannt; fatal ist, daß deutsche oberste Richter sich bemüßigt sehen, aus eigenem Antrieb weitere Rechtsargumente zum Nachteil der Nationalstaaten nachzureichen, die selbst findige Europarichter bislang offensichtlich übersehen haben.

Da ist es ein schwacher Trost, daß das jetzige Urteil nicht nur für türkische Staatsbürger, sondern auch für deutsche Sozialhilfeempfänger interessant werden könnte. Denn das deutsche Sozialhilfeniveau liegt im Ländervergleich zwar vorne, jedoch keineswegs an erster Stelle. Während ein alleinstehender Arbeitsloser in Deutschland einen Regelsatz von derzeit noch 359 Euro plus Wohnungs- und Heizkosten erhält, bekommt er beim dänischen Nachbarn rund tausend Euro mehr.

Auch Dänemark ist EFA-Vertragspartner. Bisher freilich hat man es in unserem nördlichen Nachbarland recht gut verstanden, sich unerwünschten Zuzug in die Sozialsysteme aus dem Kreis der EU-Partnerländer vom Hals zu halten und dafür lieber auch mal Unmutsbekundungen von jenseits der Grenzen zu ertragen.

 

Sozialleistungen für Ausländer in Deutschland

Nach Paragraph 45 des Ausländergesetzes kann ein Ausländer ausgewiesen werden,  „wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt“.

Dies trifft unter anderem für denjenigen zu, der „für sich, seine Familienangehörigen, die sich im Bundesgebiet aufhalten und denen er allgemein zum Unterhalt verpflichtet ist, oder für Personen in seinem Haushalt, für die er Unterhalt getragen oder auf Grund einer Zusage zu tragen hat, Sozialhilfe in Anspruch nimmt oder in Anspruch nehmen muß“.

Einschränkend heißt es jedoch, daß dabei „die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben“, berücksichtigt werden müssen.

Laut Sozialgesetzbuch II erhalten Personen, „die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben“, Sozialleistungen (meistens bezeichnet als Hartz IV).

Ausgenommen sind „Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“.

Im Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 hat sich Deutschland jedoch verpflichtet, „den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind“.

Folgende andere Länder sind dem Europäischen Fürsorgeabkommen beigetreten: Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien.

Foto: Einwanderer in Deutschland: Die Richter haben den Anspruch auf staatliche Hilfsleistungen für Ausländer deutlich erweitert

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