© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Schicksal einer Generation
Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges / Start einer JF-Serie
Dag Krienen

Für einen großen Teil der deutschen Männer der Geburtsjahrgänge von 1890 bis 1927/28 bildete nicht nur die aktive Teilnahme am Zweiten Weltkrieg als Soldat, sondern auch die anschließende Kriegsgefangenschaft einen wichtigen Abschnitt in ihrer Biographie. Insgesamt mußten über elf Millionen Männer (und auch einige tausend Frauen aus dem Wehrmachtsgefolge) eine partiell nur kurze, teilweise aber auch bis zu 14 Jahre währende Zeit in der Gefangenschaft eines oder sogar mehrerer der Kriegsgegner des Deutschen Reiches verbringen. Kriegsgefangenschaft und damit verbunden oft auch Zwangsarbeit wurde zum Schicksal zweier Generationen deutscher Männer.

Dieses Schicksal konnte allerdings im einzelnen höchst unterschiedliche Formen annehmen, je nachdem welchem Gegner man in die Hände fiel und wann dies der Fall war. Und es hing auch davon ab, welcher Macht man am Ende, nach einem umfangreichen Handel der Siegermächte untereinander, als „Kriegsbeute“ zugeteilt wurde.

Während die Sowjetunion von ihren am Ende über drei Millionen Gefangenen nur kleine Kontingente an Polen und die Tschechoslowakei weitergab, traten die USA von ihren bis zu vier Millionen knapp 700.000 an Frankreich sowie Belgien und sogar Luxemburg ab. Auch wurden 120.000 Gefangene, die ursprünglich von den Briten gemacht, aber in den USA „aufbewahrt“ worden waren, nach Kriegsende an diese „zurückgegeben“. Die übrigen amerikanischen Gefangenen wurden relativ rasch entlassen. Die Briten selbst gaben von ihren rund 3,7 Millionen Gefangenen etwa 70.000 an Belgien, Holland und Frankreich ab und entließen den größten Teil der Kapitulationsgefangenen ebenfalls relativ rasch. Sie behielten jedoch 400.000 auf der Insel zurück, von denen bis zu achtzig Prozent als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden.

Die Franzosen, deren Kriegsgefangenenbeute durch britische und amerikanische Transfers fast vervierfacht wurde, entließen nur die wenigen Arbeitsunfähigen und behielten über 700.000 zur Zwangsarbeit zurück. Das gleiche gilt für die 76.000 Gefangenen, die den Beneluxstaaten zugeteilt wurden. Alle westeuropäischen Staaten begannen ab Ende 1946 mit der Repatriierung in größerem Umfang, schlossen diese aber erst Mitte und im französischen Fall erst Ende 1948 ab. Auch die Sowjetunion, Jugoslawien, Polen und die Tschechoslowakei hatten zu diesem Zeitpunkt einen relativ großen Teil ihrer überlebenden deutschen Gefangenen in die Sowjetische Besatzungszone oder nach Österreich entlassen. Anfang 1950 blieben nur noch knapp 30.000 Kriegsgefangene in Rußland zurück, die man in Schauprozessen als Kriegsverbrecher verurteilt hatte, und die erst 1955 nach dem berühmten Engagement von Bundeskanzler Konrad Adenauer freikamen.

Klare Regeln über Rechte von Kriegsgefangenen

Daß die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges so extrem unterschiedliche Erfahrungen in und mit der Kriegsgefangenschaft machen mußten, wie sie es taten, ist keineswegs eine selbstverständliche, natürliche Folge des verlorenen Krieges gewesen. An sich waren zu dieser Zeit die Rechte und Pflichten der Kriegsgefangenen und ihrer jeweiligen „Gewahrsamsmacht“ völkerrechtlich detailliert geregelt und hätten eine zumindest in den großen Linien einheitliche Behandlung erwarten lassen.

Natürlich hatten völkerrechtliche Regeln in einem totalen Krieg wie dem Zweiten Weltkrieg nur dort eine Chance wirksam zu werden, wo sie als verbindlich betrachtet wurden. Die Sowjetunion hatte die Genfer Konvention von 1929 nie anerkannt, was Hitler wiederum eine willkommene Ausrede bot, um sie auch für die sowjetischen Kriegsgefangenen weitgehend zu ignorieren, mit verheerenden Folgen auf beiden Seiten für die Gefangenen.

Jenen deutschen Soldaten, die in die Hände von Gegnern fielen, die die völkerrechtlichen Regeln anerkannten, boten diese hingegen bis Anfang 1945 durchaus Schutz, wie dies umgekehrt summa summarum auch für die in deutscher Hand befindlichen Soldaten der entsprechenden Staaten festgestellt werden kann. Die bis zu diesem Zeitpunkt in britische und amerikanische Kriegsgefangenschaft geratenen deutschen Soldaten machten vergleichsweise positive Erfahrungen, auch wenn das Land der Verwahrung jeweils für ein gehöriges Maß an Lokalkolorit in ihrer Gefangenschaft sorgte.

Grundgedanke der Genfer Konvention zum Schutz der Kriegsgefangenen von 1929 war, daß ein feindlicher Soldat nicht als Verbrecher, sondern als recht- und pflichtgemäßer Kämpfer im Dienste eines Feindstaates zu gelten hatte, der im Falle der Kriegsgefangenschaft nur einer Art Sicherheitsverwahrung unterlag, um ihn an der Fortsetzung des Kampfes zu hindern. Diese war menschlich zu gestalten und hatte auch die Ehre des „Verwahrten“ zu achten. Die Konvention enthielt relativ eindeutige Regelungen zur Unterbringung, Verpflegung und medizinischen Versorgung der Gefangenen. Die für die Garnisonstruppen der jeweiligen Gewahrsamsmacht geltenden Standards sollten auch für die Kriegsgefangenen gelten. Ebenso war Sorge zu tragen für ihre kulturelle und religiöse Betreuung, einen geregelten Postverkehr mit den Angehörigen in der Heimat und sogar für die Besoldung der gefangenen Offiziere. Im Gegenzug durfte die Gewahrsamsmacht die kriegsgefangenen Mannschaften gegen Bezahlung zur Arbeit (die Unteroffiziere nur zu Aufsichtsdiensten) heranziehen, allerdings nicht zu unmittelbar kriegsrelevanten oder besonders gefährlichen Tätigkeiten. Offiziere waren davon sogar völlig ausgenommen.

Zwar ließen diese Bestimmungen dem Gewahrsamsstaat einen gewissen Interpretationsspielraum. Doch bildeten die Bestellung einer neutralen Schutzmacht, an die sich die Gefangenen wenden konnten, und regelmäßige Inspektionen des Internationalen Roten Kreuzes in den Gefangenenlagern Sicherungen gegen eine willkürliche und einseitige Auslegung der Konvention. Als effektivste Sicherung stellte sich allerdings das jeweilige Interesse der Staaten an der ordentlichen Behandlung der in feindlicher Hand befindlichen eigenen Soldaten dar, denen im Falle eigener Verstöße gegen die Konvention Repressalien drohten. Über die neutrale Schutzmacht ließ sich sogar eine gewisse Kommunikation der Kriegsgegner über Fragen der Gefangenenbehandlung aufrechterhalten.

Als nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 die Drohung der Repressalie entfiel, verlor die Genfer Konvention de facto an Schutzwirkung, auch dort, wo sie formal in Kraft blieb. Es lassen sich nun recht erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Gewahrsamsstaaten in der Behandlung ihrer Kriegsgefangenen feststellen. Aber es gab auch Gemeinsamkeiten. Keines der alliierten europäischen Länder ließ sich die Gelegenheit entgehen, noch lange nach Kriegsende gefangene deutsche Soldaten als Zwangsarbeiter einzusetzen. Offiziell wurde diese Zwangsarbeit als „wirtschaftliche Wiedergutmachung“ legitimiert, doch widersprach eine solche Verwendung von Kriegsgefangenen eindeutig dem Völkerrecht.

Keine völkerrechtliche Legitimation nach Mai 1945

Zwar forderte die Genfer Konvention dem Wortlaut nach nur die sofortige Entlassung nach Abschluß des Friedens, der als solcher mit Deutschland formell nie geschlossen wurde. Doch war in der Konvention „Kriegsgefangenschaft“ eindeutig als bloße Sicherungsverwahrung für feindliche Kombattante während der fortgesetzten Kampfhandlungen definiert. Mit der Übernahme aller Staatsgewalt in Deutschland durch die Siegermächte entfiel aber jede Gefahr einer Wiederaufnahme des Kampfes im Dienste des total besiegten Staates. Damit entfiel auch jede völkerrechtliche Legitimation einer fortgesetzten Gefangenschaft und Zwangsarbeit deutscher Soldaten.

Indirekt erkannten Briten und Amerikaner dies auch an, indem sie die nach der Kapitulation eingefangenen deutschen Soldaten als „Surrendered Enemy Personnel“ oder „Disarmed Enemy Forces“ klassifizierten, um ihnen nicht den Kriegsgefangenenstatus mit seinen klar definierten Rechten einräumen zu müssen. Im amerikanischen Fall hatte das für die Betroffenen katastrophale Folgen. Die deutschen Kapitulationsgefangenen machten mit den Amerikanern Erfahrungen, die sich diametral von denen unterschieden, die die vor 1945 in das amerikanische Heimatland verbrachten Kriegsgefangenen gemacht hatten.

In den folgenden Wochen wird an dieser Stelle in der JUNGEN FREIHEIT in unregelmäßiger Reihenfolge über die Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen in den einzelnen Ländern berichtet werden.

Foto: Zug deutscher Kriegsgefangener durch die Ruinen der Stadt Aachen, Oktober 1944: Völlig präkerer Status nach dem 8. Mai 1945

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen