© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Reform der Bundeswehr
Lehrmeister Krieg
Fritz Zwicknagl

Früher galten wir Deutschen als Meister militärischer Effizienz. Heute bringt die Bundeswehr mit 252.000 Köpfen kaum 7.000 Soldaten in den Einsatz. 20 Jahre war Zeit, sich auf die neuen militärischen Anforderungen einzustellen, allein neun Jahre seit Beginn des Engagements in Afghanistan. Man hat diese Zeit verstreichen lassen in der Hoffnung, es würde alles glimpflich vorbeigehen. Nun holen uns die „kriegsähnlichen Zustände“ am Hindukusch ein und zwingen dazu, Farbe zu bekennen.

Das erste Opfer der überfälligen Reform ist die Wehrpflicht. Das war abzusehen. Erstaunlich ist die plötzliche posthume Begeisterung für diese Wehrform – und noch erstaunlicher, daß sie gerade bei den Volksparteien ausbricht, die sie selbst zur Farce gemacht haben. Die Epoche der allgemeinen Wehrpflicht ist mit dem Ende des Kalten Krieges abgelaufen. Ihr Ende war schon mit der Erfindung der Atomwaffe besiegelt. Die großen konventionellen Armeen des Westens waren nur noch nötig, um ein Unterlaufen des nuklearen Schirms durch die Panzermassen des Warschauer Paktes zu verhindern. Eine nukleare Kriegführung war schlicht „undenkbar“ geworden.

Die allgemeine Wehrpflicht war eine Errungenschaft der Französischen Revolution. Aus dem Untertanen wurde der am Gemeinwesen beteiligte „Staatsbürger“, der dafür in den Krieg zog. So ging die Demokratisierung von Krieg und Gesellschaft Hand in Hand. Voraussetzung für die funktionierende Wehrpflicht waren nationale und militärische Begeisterung und ein Gefühl äußerer Bedrohung. Die Begeisterung ist längst verflogen, nun ist auch die Bedrohung weg. Damit ist bei uns, wie in den meisten westlichen Ländern, der Wehrpflicht der Boden entzogen.

Das neue Kriegsbild, das wir beharrlich ignorierten, ist für viele unserer westlichen Nachbarn seit Jahrhunderten verfassungsrechtliche und militärische Normalität: Es herrscht tiefster Friede, aber an den Grenzen des Imperiums müssen ständig Aufstände bekämpft oder Grenzvölker zurückgeschlagen werden. Die Zeit der Kolonialreiche ist vorbei, über unser Bündnis sind wir aber, die wir eigentlich aller „Weltpolitik“ abgeschworen haben, in einen ähnlichen geostrategischen Handlungszwang versetzt, denn angeblich wird Deutschland „auch am Hindukusch verteidigt“ (Peter Struck).

Das alles ist für uns schwer verdaulich. Die Wehrpflicht galt als defensives Symbol und imprägnierte uns gegen unsittliche außereuropäische Kriegsangebote, wie beim Unternehmen „Desert Storm“, das uns 1991 überraschte. Dafür haben wir teuer bezahlt. Das Buch „Lehrmeister Krieg“ (1992) von Karl Otto Hondrich war ein erster intellektueller „Deutschuß“ im Gefolge des Golfkriegs. Kollektive, so Hondrichs Theorie, lernen durch Kriege. Oft nur durch Kriege, könnte man ergänzen. Sicher ist, daß unter dem erdrückenden Primat der Innenpolitik manche Wahrheit nur durchdringt, wenn sie uns von außen aufgezwungen wird. Das ist es, was gerade in Afghanistan passiert.

Das erste Opfer der Bundeswehrreform ist die Wehrpflicht. Ihr Ende war schon mit der Erfindung der Atomwaffe besiegelt. Was jahrelang diskutiert wurde, hat sich in Afghanistan entschieden. Der Schritt zur Berufsarmee ist die Lektion vom  Hindukusch.

Was sonst zu jahrelangen, fruchtlosen Diskussionen führte, entscheidet der „Lehrmeister Krieg“ im Handumdrehen. Jetzt ist plötzlich klar, welche Kaliber die Infanterie braucht und welches Können ihre Führer. Selbst das Prinzip der Mülltrennung im Einsatz scheint zu kippen. So wird sich bald auch der ideologische Nebel bei anderen Themen lichten. Die wirkliche Wende im Leben der Bundeswehr wäre dann nicht der Schritt zur Berufsarmee, sondern die Lektion am Hindukusch. Die Wehrpflichtdiskussion ist unterschwellig geprägt vom Unbehagen an diesem Einsatz. Landesverteidigung ja, aber größte Zweifel gegenüber der amerikanischen Geostrategie. Dieses Gefühl wächst seit dem Irak-Krieg, gerade im konservativen Lager. Aber wo ist der Ausweg?

Die „Kultur der Zurückhaltung“ wird uns nicht mehr abgekauft. Wollen wir im westlichen Bündnis nicht noch weiter an Ansehen und Einfluß verlieren, müssen wir uns vom Makel des Drückebergers befreien. „Dabeisein – ohne mitzumachen“, unsere bisherige Einsatzmaxime, greift nicht mehr. Das verächtliche Lachen der US-Kommandeure bei der Erwähnung der Deutschen in Afghanistan, wie Bob Woodward in seinem brandneuen Buch „Obama’s Wars“ berichtet, sollte uns zu denken geben. Auch die eigene Presse titelt über die Bundeswehr, sie könne „alles außer kämpfen“ (Die Zeit, 4. März 2010) und sie gelte als „zu feige, den Kampf gegen die Taliban aufzunehmen“ (Der Spiegel, 25. Januar 2010).

Das mag ungerecht sein, aber die westliche Gemeinschaft ist unser Schicksal. Also gilt es, Ruf und Stellung im Bündnis wiederherzustellen. Das geschieht nicht mit unserer weltweit unschlagbaren Vernetzungs- und Stabilisierungsrhetorik, sondern mit handfestem Engagement am Hindukusch. Je beeindruckender das gelingt, desto selbstbewußter kann unser Land bei künftigen geostrategischen Zumutungen gegenüber der Hegemonialmacht auftreten. Dann ist selbst beim Scheitern des Afghanistan-Abenteuers kein Opfer umsonst gewesen. Nicht um Deutschlands Sicherheit geht es also am Hindukusch, sondern um den „Klassenerhalt“ im Bündnis. Darauf muß auch die Wehrreform ausgerichtet sein.

Die Lage ist so friedlich wie nie zuvor in der deutschen Geschichte, aber natürlich heißt Sicherheitspolitik „Vorsorge gegen Unvorhergesehenes“. Das kann vieles sein, ein Mobilmachungsfall ist kaum darunter. Die beste Vorsorge ist immer noch eine sofort einsetzbare, kriegstüchtige Truppe. Die Größe dieser Berufsarmee – und ihres Budgets – sollte allerdings angemessen sein, der Größe unseres Landes, seiner Bevölkerung und seiner Wirtschaftskraft. Hier liegen wir schon am Ende der Skala und werden jetzt noch weiter absinken. Doch das ist ein eigenes Thema. Die Wehrpflicht hilft uns dabei nicht.

Die „sekundären“ Argumente jenseits der Sicherheitspolitik kreisen um die Verbindung von Bundeswehr und Gesellschaft, die bei Wegfall der Wehrpflicht abreißen könnte. Das ist staatstragend gedacht, bei einer Einberufungsquote unter 15 Prozent aber kaum überzeugend. Außerdem bestehen auch Berufsarmeen mit Masse aus jungen Zeitsoldaten mit kurzer Verpflichtungszeit. Oder gelten diese „Söldner“ nicht als Söhne unseres Volkes? 

Der wirkliche Grund für das Festhalten an der Rest-Wehrpflicht ist ein anderer. Sie ermöglicht den „privilegierten Zugang zum Arbeitsmarkt“ (Herfried Münkler). Aber 50.000 Wehrpflichtige auszubilden, um einige tausend Freiwillige zu bekommen, ist extrem unwirtschaftlich. Mit besserem Ergebnis könnte man die frei werdenden Mittel in die „richtigen“ Soldaten investieren. Alle postheroischen Gesellschaften haben ein Rekrutierungsproblem, wir aber ganz besonders. Kriegseinsatz gehörte nicht zur Stellenbeschreibung.

Selbst bei angemessener Bezahlung und Berufsfortbildung ist nicht mehr die Attraktivität des Dienstes entscheidend, sondern Dauer und Risiko möglicher Einsätze. Der „Faktor Afghanistan“ und nicht die abgeschaffte Wehrpflicht wird langfristig das Bewerberaufkommen prägen. Schon jetzt ist abzusehen, daß die viermonatige Einsatzdauer nur für „symbolische“ Aufträge taugte. Zwölf Monate mit Urlauben, so die Fachleute, ist das Standardmaß bei kritischen Einsätzen. Nur dann gewinnen Soldaten und Führer lebensrettende Einsatzerfahrung, von der vielbeschworenen „interkulturellen Kompetenz“ gar nicht zu reden. Wer wird sich dann freiwillig melden?

Die Bundeswehr hat sich immer als moderner Arbeitgeber und nicht als Schicksalsgemeinschaft verstanden. Was motiviert denn einen jungen Menschen, für diese Gesellschaft zu kämpfen, die sich nicht um ihn schert? Eisiges Schweigen im Lande Scharnhorsts.

Statt herablassende Prognosen über den künftigen Mannschaftsnachwuchs anzustellen, sollte man sich besser fragen, was einen jungen Menschen tatsächlich veranlassen könnte, für diese Gesellschaft sein Leben zu riskieren, die sich keinen Deut um ihn schert oder auch für eine Bundeswehr, deren Hauptsorge ist, es könnte sich eine Art „Kriegerethos“ entwickeln. Was hält eine Truppe zusammen und motiviert sie, wenn sie so viel von Afghanistan gesehen hat, daß keine politische Sprechblase mehr wirkt? Eisiges Schweigen im Lande Scharnhorsts.

Damit nähern wir uns dem ideologischen Kern der Debatte. „Angesichts der schlimmen deutschen Erfahrung mit dem Militarismus“ sei es ein großes Verdienst der Wehrpflicht, daß die Bundeswehr ein „integraler Bestandteil der Gesellschaft“ sei, diese Errungenschaft dürfe man nicht leichtfertig opfern, so Peter Harry Carstensen (CDU). Und DGB-Chef Michael Sommer warnt „nach der Erfahrung des Militarismus in zwei Weltkriegen“ vor mangelnder Verankerung einer Berufsarmee in der Gesellschaft. Waren die Weltkriege nicht der historische Höhepunkt der allgemeinen Wehrpflicht, Ausdruck einer perfekten Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft? Eine Mobilmachung der Bürger, von der Scharnhorst nur träumen konnte?

Was Volksparteien und Gewerkschaften wirklich eint, ist nicht die Liebe zum Wehrdienst, sondern das alte Ressentiment gegenüber dem „stehenden Heer“. Das Weimarer Feindbild von der Reichswehr als „Staat im Staate“ spukt noch immer in den Köpfen. Sie war kein demokratisches „Spiegelbild“ der Weimarer Zustände, dafür „homogen und diszipliniert“, eine Armee, die „in der Qualität in Europa nicht ihresgleichen hatte“ (Gordon A. Craig) und die sich sogar Charles de Gaulle in seinem Büchlein „Vers l’armée de métier“ (1934) zum Vorbild nahm für eine Reform der verrotteten Armee der Dritten Republik.

Ein Schönwetter-Konstrukt wie die Bundeswehr, offen für jeden Durchgriff der politischen Parteien, hätte damals nicht überlebt. Im übrigen war es nicht die politische Neutralität der Reichswehr, sondern die ausweglose Zerstrittenheit der Parteien, die Hitler den Weg zur Macht ebnete. Aber die Legende ist zäh, vor allem wenn sie als Gründungsmythos für die „Innere Führung“ herhalten muß. Die Bundeswehr, so Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan 2007, unterliege nicht nur der parlamentarischen Kontrolle. „Mit jedem Wehrpflichtigen übt die Bevölkerung Kontrolle darüber aus, ob den Grundsätzen unserer Verfassung entsprochen wird. Dieses hohe Gut freiheitlichen und demokratischen Einblicks in das Innere der bewaffneten Macht gilt es zu bewahren.“

Jetzt wird deutlich: Die Wehrpflicht ist der beste Schutz gegen Homogenität, Disziplin und Korpsgeist. Der vielbeschworene „Geist Scharnhorsts“, einst Ausdruck der „innigsten Vereinigung von Nation und Armee“, degeneriert zur permanenten Observation des Offizier- und Unteroffizierkorps durch politisch korrekte Wehrpflichtige –  im Auftrag der „Bevölkerung“. Diesem Wehrsystem muß man keine Träne nachweinen.

Die Bundeswehr ist für den „Frieden als Ernstfall“ gedacht gewesen. Anders als die Armeen unserer Verbündeten hat sie sich stets als moderner Arbeitgeber und nie als Schicksalsgemeinschaft verstanden. Dieser „deutsche Sonderweg“ steht nun auf dem Prüfstand. Ein paar Dutzend Fallschirmjäger und Infanteristen, die außerhalb der festen Lager in Afghanistan tagtäglich ihre Haut für dieses Land zu Markte tragen, schlagen sich so tapfer wie einst ihre Großväter. Aber ihre Realität hat sich Lichtjahre von der Bundeswehr­idylle entfernt. Der „Lehrmeister Krieg“ wirkt. Nur mit einem raschen Abzug wird man sich weiteren Lektionen entziehen können.

 

Fritz Zwicknagl, Jahrgang 1946, Oberst a. D., diente als Fallschirmjäger und Generalstabsoffizier. Zuletzt war er Leiter von Generalstabslehrgängen und Kommandeur der Luftlande- und Lufttransportschule der Bundeswehr in Altenstadt.

Foto: Wacht am Hindukusch: Bundeswehrsoldaten halten die Stellung im afghanischen  Chahar Darreh

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