© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Pankraz,
Robert Walser und das Spazierengehen

In Neurology, der internationalen Zeitschrift der Gehirnforscher, las Pankraz einen langen Aufsatz über die Vorteile des Spazierengehens. Neuartige Spaziergangswissenschaftler, sogenannte  „Promenadologen“, der Universität von Pittsburgh wollen in einem volle dreizehn Jahre andauernden Feldversuch herausgefunden haben, daß Spaziergänge nicht nur körperlich fit halten, sondern auch das Gedächtnis und  das Denkvermögen überhaupt höchst erfolgreich trainieren und entscheidend prägen.

Während andere ritualisierte Bewegungsformen, wie Wandern, Marschieren, Joggen, sportliches Gehen, für die Pflege des Geistes nicht viel hergäben, ihn eher abstumpften, sei das Spazieren, so war da zu lesen, ein wahrer intellektueller Gesundbrunnen. Er mache empfindlich für Vorgänge in Natur und Gesellschaft, fördere und vertiefe zwischenmenschliche Kommunikation, stifte gemeinsame Interessen, kurzum, die Forscher könnten nur raten: „Leute, geht wieder mehr spazieren!“

Pankraz leuchtet die Botschaft nicht ohne weiteres ein. Er hat unerquickliche Erinnerungen an seine Kindheit, wo der elterliche Entschluß „Wir gehen spazieren“ lähmend langweilige Stunden ankündigte. Man durfte nun nicht mehr Fußball spielen, im Wald Eidechsen fangen oder Karl-May-Bücher lesen, sondern mußte brav neben dem Kinderwagen des Brüderchens einherschreiten, ordentlich auf dem Weg bleiben und gelegentlich ellenlangen  Gesprächen der Mutter mit Freundinnen zuhören, die sie beim Spazierengehen getroffen hatte. Deprimierend!

Später lernte Pankraz das Werk des Schriftstellers Robert Walser (1878–1956) kennen, der als „der“ Spaziergänger an sich und überhaupt in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Er galt eine Zeitlang als sensationeller Geheimtip, doch im Grunde war er eine lebensohnmächtige Büro- und Domestikenseele, dessen Texte das Produkt ewiger, zielloser Herumflaniererei waren, ein unendlicher Film  von Augenblicksimpressionen und kurzfristigsten Gedankensprüngen. Er nannte sie „Mikrogramme“, und sie führten ihn keineswegs zu geistiger Erleuchtung, sondern ab 1929 geradewegs ins Irrenhaus.

Spaziergang ist weder echte Muße noch wirkliche Arbeit à la Morgenjogging, sondern ein Mittelding. Man schreitet nicht ziellos, aber auch nicht zielbestimmt, man macht das Gehen selber zum Ziel, „erbaut“ sich an ihm und will dabei möglichst gesehen werden. Insofern war Goethe, den die heute mit Forschungsgeldern bedachten „Promenadologen“ gern als Urspaziergänger für sich reklamieren, keineswegs ein solcher. Sein „Ich ging im Walde so für mich hin, / Nach nichts zu suchen, das war mein Sinn …“ war eher ein  momentanes Abtauchen vor den Mitmenschen denn ein Gesehenwerdenwollen.

Gesehenwerdenwollen jedoch gehörte von Anfang an zum Spazierengehen dazu. Dieses ist abendländischen und barocken Ursprungs, hieß ursprünglich „lustwandeln“ und meinte das preziöse Sichergehen und Sichzeigen der Mächtigen in schöner Umgebung, eben auf der „Promenade“. Für das aufsteigende, selbstbewußte Bürgertum wurde „die Promenade“ zur liebsten Freizeitbeschäftigung. In Kurorten und Seebädern legte man eigens Rundwege dafür an und nannte sie ausdrücklich „Promenaden“ oder „Spaziergänge“. Der Spaziergang stieg – von Spitzweg bis Auguste Renoir – zum beliebten Thema der Malerei auf.

Heute ist vom Spaziergang als kulturellem Phänomen wenig übriggeblieben. An seine Stelle trat in der Freizeit der „Ausflug“ mit vorher genau festgelegtem Zielort, den man zunehmend statt per pedes auf zwei oder vier Rädern erreichte. Auch das ursprünglich jugendbewegte, mittlerweile mehr von reiferen Jahrgängen bevorzugte Wandern versteht sich als Alternative zum „bloßen“ Spaziergang. Es will einerseits sportliche Herausforderung sein, andererseits Bewältigung von allerlei „Sightseeing Spots“ und „Kulturprogrammen“ zwischendurch, Unterhaltung statt Selbstinszenierung.

Daneben hat sich in einigen Quartieren ein intellektueller, hoch sublimierter Sonderzweig der allgemeinen Spaziergängerei herausgebildet, welcher dem Goetheschen „Ich ging im Walde …“ tatsächlich nahekommt. Man spricht von „Waldgang“ im Stil Ernst Jüngers, von großstädtischem „Flanieren“ im Stil Walter Benjamins. Der Waldgänger bzw. Flaneur versucht, sich bewußt vom Mainstream abzusondern, Distanz zu halten, Exklusivität zu markieren, auch verachtungsvolles Dagegensein. Es handelt sich dabei freilich nur um individuelle Gesten, nicht um verallgemeinerbare Geistesströmungen.

Jedenfalls haben die Promenadologen in dem Neurology-Aufsatz alles andere als Jüngersche oder Benjaminsche Exaltationen im Auge gehabt. Wenn sie mit eifrigem Biedersinn empfehlen, jeder aufgeweckte Zeitgenosse solle im Jahr mindestens zehn Kilometer „spazierengehen“, dann würden sich die geistigen Standards in der westlichen Welt umgehend verbessern, und ein neues Zeitalter der Aufklärung und des Rokoko werde anbrechen, dann kann man ihnen nur empfehlen, selber fleißig umherzuspazieren, statt  Forschungsgelder zu verbrauchen. Das Geld könnte dann besser anders angelegt werden.

Ähnliches gilt für unsere deutsche promenadologische Forschung, die in Leipzig und an der Gesamthochschule Kassel konzentriert ist. Ihr Ziel ist laut Pressestelle „das konzentrierte und bewußte Wahrnehmen unserer Umwelt und dabei das Weiterführen des bloßen Sehens zum Erkennen“. Zu diesem Behuf werden also launige „Modell-Spaziergänge“ veranstaltet, zum Beispiel der Spaziergang „Das Zebra streifen“ oder der Spaziergang „Die Fahrt nach Tahiti“ auf einem ehemaligen Truppenübungsgelände am Rande von Kassel.

Die Stadt Frankfurt am Main hat vor zwei Jahren auch schon den ersten (zweitägigen) internationalen Kongreß der Spaziergangswissenschaftler veranstaltet, unter dem hübschen Titel  „Gut zu Fuß“. Das Treffen war teuer, aber erfolgreich, die Forscher haben sich dabei gut amüsiert und hatten am Abend nicht einmal Blasen an den Füßen.

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