© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Im Westen was Neues
Strategie: Die Nato muß sich neuen Bedrohungen stellen und Rußland einbinden
Karl Feldmeyer

Am 19. November treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 28 Nato-Staaten in Lissabon. Gegenstand ihrer Beratungen wird die Verabschiedung eines neuen Konzepts für das Bündnis sein. Es soll an die Stelle des vor elf Jahren in Washington beschlossenen strategischen Konzeptes treten. Seither haben sich die Herausforderungen verändert. Die Nato steht seit fast einem Jahrzehnt in Afghanistan ohne absehen zu können, wann und wie dieses Engagement enden wird.

Wie das neue Konzept aussehen wird, ist bisher geheim. Mit großer Rigidität  hält die Nato den Entwurf unter Verschluß. Als sicher kann nur gelten, daß er zwölf Seiten füllt. Er wurde mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehen, so daß sogar den Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags zu ihrer Empörung der Einblick verweigert wurde, als sie Anfang des Monats über ihn beraten wollten. Die genaue Kenntnis seines Inhalts bleibt den Regierungen vorbehalten. Das läßt vermuten, daß es noch offene Fragen gibt, die erst von den Regierungschefs am 19. November beantwortet werden sollen.

Was der Öffentlichkeit bisher an Informationsbrocken zugespielt wurde, sind vor allem Details. Zu einem Konzept gehört mehr, vor allem Aussagen darüber, welche Konsequenzen das Bündnis aus den Erfahrungen des Afghanistankrieges bei künftigen asymmetrischen Konflikten ziehen will. Was das Dokument dazu feststellt, werden wir frühestens am 19. November erfahren.

Dem Vernehmen nach enthält das Papier drei Kernpunkte. Sie sollen sich auf die kollektive Verteidigung, das Management künftiger Konflikte sowie die Themen Raketenabwehr und Abrüstung beziehen. Die Selbstverpflichtung der Mitglieder zur gemeinsamen Abwehr eines Angriffs wird gewiß bekräftigt werden. Sie ist seit Gründung der Nato im April 1949 der Kern der Allianz und Voraussetzung für ihren Fortbestand. Dennoch ist das Prinzip der gemeinsamen Verteidigung allem Anschein nach nicht problemlos.

Das zeigen neue Bedrohungen wie etwa ein sogenannter „Cyberwar“, also die Möglichkeit, das elektronische Netz eines Landes, seiner Armee oder anderer lebenswichtiger Einrichtungen auszuschalten oder die Lähmung eines Landes durch die Blockade seiner Energieversorgung, insbesondere von Gas und Erdöl herbeizuführen. Auf sie soll sich die Beistandspflicht des

Artikels 5 des Washingtoner Vertrags jedoch nicht erstrecken; auch weil dies auf eine Vertragsänderung hinausliefe, deren Ratifizierung in Berlin und anderen Mitgliedsländern ungewiß wäre. Wie gefährlich ein solcher „Cyberwar“ werden kann, mußte Estland im Jahr 2007 erfahren, als seine Beziehungen zu Rußland auf einen Tiefpunkt abgesunken waren. Daß für Angriffe dieser Art nicht die Beistandspflicht des Artikel 5 gelten soll, sondern lediglich die in Artikel 4 enthaltene Zusage von Konsultationen läßt die Frage unbeantwortet, was die Nato konkret tun würde, wenn dieser Fall – etwa in einem der baltischen Mitgliedsländer – eintreten sollte. Das ist eine gefährliche Unterlassung. Sie könnte potentielle

Aggressoren in Versuchung führen.

Interne Differenzen gibt es vermutlich nicht nur in dieser Sache, sondern seit langem auch in Fragen der nuklearen Abrüstung, der Rüstungskontrolle sowie über den Aufbau eines Systems zur Abwehr von ballistischen Raketen. Das Thema nukleare Abrüstung erhielt neuen Auftrieb durch das Bekenntnis von Präsident Obama zu einer atomwaffenfreien Welt – als Fernziel. Ginge es nach dem deutschen Außenminister Guido Westerwelle (FDP), so wäre der sofortige Abzug der im Hunsrück verbliebenen amerikanischen Atomwaffen, die die deutsche Teilhabe an der nuklearen Option sichern sollen, der erste Schritt dazu. Davon mußte er jedoch ablassen.

Die Einsetzung eines Ausschusses für Abrüstungsfragen und ein grundsätzliches Bekenntnis der Nato zur Abrüstung sind alles, was den Partnern abzuringen war. Gegenwind kam aber nicht nur aus Washington, sondern vor allem aus Paris, denn Frankreich will alles verhindern, was seine eigene Nuklearmacht gefährden könnte. Das Motiv dazu ist die realistische Einschätzung, daß eine Welt ohne atomar bewaffnete Ordnungsmächte höchst unsicher und durch Staaten wie den Iran und Nordkorea erpreßbar wäre.

Die Differenzen zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems, die nicht zuletzt zwischen Washington und Berlin bestanden, konnten wohl vor allem deshalb überbrückt werden, weil Washington vom Konzept einer nationalen Abwehr plus bilateraler Abkommen (mit Polen und Tschechien) Abstand nahm. Das neue, Nato-integrierte Konzept hat keine anti-russische Komponente; im Gegenteil, es schließt Rußland ausdrücklich ein.

Das Interesse der Nato an einem verbesserten Verhältnis zu Rußland ist wohl eine der wichtigsten Veränderungen, die die neue Nato-Konzeption enthalten dürfte. Sie schlage sich in einer „sehr konstruktiven Sprache“ und in einem Bekenntnis zu einem „gemeinsamen Sicherheitsraum“ nieder, wie man „in unterrichteten Kreisen“ hervorhebt. Die Bundesregierung, die nach dem russisch-georgischen Kaukasuskrieg des Jahres 2008 maßgeblich dazu beitrug, das Verhältnis des Westens zu Rußland vor einem Bruch zu bewahren, darf mit diesem Ergebnis – wenn es denn so kommt – zufrieden sein.

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