© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

Von der Energie der Gegensätze
Humboldts Schöpfung: Die Berliner Universität Unter den Linden wurde vor zweihundert Jahren gegründet
Alfons Schiemann

Der Islamversteher Christian Wulff wirkte indisponiert. Sei es, weil seine Bremer Rede zum Tag der Deutschen Einheit die rhetorischen Reserven dieses Bundespräsidenten bereits erschöpft haben, sei es, weil ihn der 200. Geburtstag der Berliner Universität, zu dem er am 6. Oktober im Konzerthaus am Gendarmenmarkt ein „Grußwort“ beisteuerte, intellektuell schlicht überforderte. Jedenfalls nahm der Pressepulk seine vom Blatt gelesene Botschaft nur wahr, wie Gustav Seibt lästerte (Süddeutsche Zeitung vom 7. Oktober), als „Nuscheln in seine Krawatte hinein“. Doch diese präsidiale Wurstigkeit, trefflichst harmonierend mit dem Eindruck von der mehrheitlich abwesenden übrigen „Partei- und Staatsführung“, demonstrierte dem versammelten Akademikervolk wenigstens, welchen niedrigen Stellenwert man ihm in der allseits gepriesenen „bunten Republik“ beimißt.

Zwar galt auch der preußische König Friedrich Wilhelm III., der Stifter der am 15. Oktober 1810 unzeremoniell eröffneten, von 1826 bis 1946 auch seinen Namen führenden Berliner Universität, weder als Freund der Dichter und Denker noch als geistig sonderlich hell flackerndes Kirchenlicht. „Unser Dämel ist in Memel“, reimte daher der freche Berliner Volksmund, als er 1807 mit Gemahlin Luise und kleinem Hofstaat vor Napoleons Armeen in den äußersten Nordosten Preußens flüchtete. Aber selbst einem Herrscher so bescheidenen Formats war inmitten der gefährlichsten Bedrohung, vor der die junge Großmacht seit „Kunersdorf“ (1759) stand, unzweifelhaft klar, daß sein Staat „durch geistige Kräfte ersetzen“ müsse, „was er an physischen verloren hat“.

Geistige Kräfte ersetzen, was an physischen verlorenging

Darum erhielt der preußische Gesandte in Rom, Wilhelm von Humboldt, 1809 die Chance, an der Spitze der Sektion für Kultus und Unterricht im Innenministerium eine Modelluniversität neuhumanistischen Zuschnitts zu entwerfen. Das geschah von Königsberg aus, dessen 1544 gegründete Albertina er sich zusammen mit Berlin als „die beiden einzigen Universitäten der Preußischen Staaten“ wünschte. Halle an der Saale (seit 1694 Universität) war zu diesem Zeitpunkt dem napoleonischen „Königreich Westfalen“ einverleibt worden, Frankfurt an der Oder (seit 1506) auf Gymnasialniveau abgerutscht und zur Auflösung reif, die dann 1811 auch erfolgte.

Humboldt half also, die arg vernachlässigte Königsberger Universität zu reorganisieren und bereitete gleichzeitig die Berliner Gründung vor, der zunächst nur ein paar notdürftig freigeräumte Zimmer im königlichen Prinz-Heinrich-Palais Unter den Linden zur Verfügung standen, die aber, als sie im Wintersemester 1810/11 den Vorlesungsbetrieb aufnahm, personell sogleich in die erste Liga der europäischen Hohen Schulen aufrückte.

Für ein traumhaftes Gehalt durfte Humboldt seinen Freund Friedrich August Wolf verpflichten, „den ersten jetzt lebenden Philologen“, den der junge August Boeckh als Professor für Eloquenz und Poesie unterstützte, der wiederum bald mit seiner interdisziplinären Vision von „Altertumswissenschaft“ die bis ins 20. Jahrhundert unangefochtene Berliner Weltstellung auf desem Terrain fundierte. Johann Gottlieb Fichte erhielt einen philosophischen, Friedrich Schleiermacher einen theologischen, der beste Kenner der römischen Rechtsgeschichte, Friedrich Carl von Savigny, einen juristischen Lehrstuhl. Daß die Naturwissenschaften und die Medizin mit weniger glanzvollen Namen auskommen mußten, lag an ihrem teilweise noch mittelalterlichen Niveau.

Aber nach 1850 holten diese Disziplinen rasch auf, und die Institute und Labore Unter den Linden, in der Regie von Koryphäen wie Virchow, Helmholtz, Weierstraß oder Robert Koch, hatten wesentlichen Anteil daran, das Deutsche Kaiserreich von 1871 zur ersten Industriemacht des Kontinents umzubauen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, mit Einrichtung der naturwissenschaftlichen Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin-Dahlem, dem „deutschen Oxford“, stieß jedoch besonders in diesen Fächern das Humboldtsche Ideal der „Einheit von Forschung und Lehre“ an seine Grenzen. Großforschung in enger Kooperation mit der Industrie kam ohne Lehre aus. Überdies ohne „Einsamkeit und Freiheit“, wie sie Humboldt für unabdingbar hielt, um sich „zweckfreier“, nicht vom „Broterwerb“ oder von anderen „trivialen Nützlichkeiten“ diktierter Wissensmehrung hinzugeben.

An der Geschichte seiner Berliner Schöpfung, an der sich die gesamte deutsche Hochschullandschaft bis 1945 ausrichtete, ist zudem abzulesen, wie schroff der Kontrast zwischen Humboldts bildungsphilosophischem Idealismus und den niemals zweckfreien Realitäten staatlicher Unterrichtsanstalten ausfiel, die dem Gemeinwesen praxis-taugliche Lehrer, Pastoren, Richter und Ärzte zu erziehen hatten. Die zwei denkbaren Arten des Wissens, das Orientierungs- und Sinnstiftungswissen der Geistes-, wie das Herrschaftswissen der naturwissenschaftlich-technischen, der juristisch-ökonomischen Disziplinen, fügten sich nicht ein in das von ihm ohnehin nur impressionistisch explizierte Konzept, sich zur „Wissenschaft um ihrer selbst willen erheben“ zu sollen, um durch „harmonische Ausbildung aller Fähigheiten wahrhaft gebildet“ zu werden. Das war gegen das französische Modell bloß berufsvorbereitender „Specialschulen“ und ihr „Fachidiotentum“ gerichtet. Heute, wo sich gerade dieser Spezialismus auf ganzer Linie durchsetzt und unter dem „Bologna“-Signet den europäischen Studienalltag formt, ist es daher ein Haupteinwand gegen den „Humboldt-Mythos“, daß er schließlich schon zu Lebzeiten des preußischen Bildungsreformers von der Wirklichkeit widerlegt worden sei.

Humboldts Idee prägte fünf Gelehrtengenerationen

Trotzdem geht die Berliner und die preußisch-deutsche Hochschulgeschichte nicht in Anwendungsfixierung auf. Denn Humboldts Wissenschaftsverständnis war für fünf Gelehrtengenerationen immerhin so prägend, daß sie stets einen Überschuß an anwendungsfreiem, nicht „examensrelevantem“ Wissen produzierten. Das begünstigte die „Collision“ zwischen den Lehrern, jene gehörige Portion „Antagonismus und Reibung“, die Humboldt für das Lebenselixier der scientific community hielt, ihr „heilsam und notwendig“, um nicht in Konformismus und Status-quo-Seligkeit zu erstarren. Darum formierte sich an der Berliner Universität auch nie, wie gern unterstellt, ein „geistiges Leibregiment der Hohenzollern“. Nach Bismarcks Entlassung etwa durfte sein Verehrer Heinrich von Treitschke im überfüllten Hörsaal hemmungslos gegen Wilhelm II. vom Leder ziehen, ohne daß, wie seine Studenten fürchteten, „Staatsanwalt und Richter bemüht wurden“.

Diese Kultur der politischen und geistigen Vielfalt mit ihrer „Energie der Gegensätze“ (Leopold von Ranke) geht fraglos auf Humboldts Bildungsideal zurück. Die immer wieder dagegen ins Feld geführten Hinweise auf den Berliner Privatdozenten Leo Arons, der 1900 wegen seiner SPD-Mitgliedschaft seine Lehrbefugnis verlor, oder auf berufungspolitisch zurückgesetzte Juden und Katholiken, dokumentieren nur Randphänomene und zeugen nicht gegen den prinzipiellen Pluralismus des Systems, das selbst die „Gleichschaltung“ von 1933 mit einigen schmerzlichen Blessuren abzuwettern vermochte und im Palais Unter den Linden erst dann völlig verschwand, als die SED dort „parteiliche Wissenschaft“ etablierte – ausgerechnet mit Humboldt als neuem Namenspatron.

Foto: Die Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität am Forum Fridericianum, Unter den Linden um 1850: Wesentlicher Anteil am Aufstieg des Deutschen Kaiserreichs nach 1871 zur ersten Industriemacht des Kontinents

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