© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Deutsche Moral
Raphael Gross muß es „unter Nazis“ aushalten
Oliver Busch

Unter seinem Konterfei platziert, weist der Klappentext des neuen Buches von Raphael Gross den Autor als bewältigungspolitischen Multifunktionär aus: Seit 2001 Direktor des Leo Baeck Instituts in London, leitet er seit 2006 zudem das Jüdische Museum in Frankfurt am Main und dort seit 2007 auch das Fritz Baur Institut. Derart von den Geschäften beansprucht, ist dem Tausendsassa dennoch genügend Zeit für eine Buchproduktion geblieben. So ist es zu verstehen, daß das „neue“ Werk über die „nationalsozialistische Moral“ nicht wirklich neu ist. Von den neun Kapiteln wurden sechs in Aufsatzform in szeneüblichen Sammelwerken wie der Festschrift für seinen Mentor Dan Diner oder in purer Agitationsliteratur („Expressions of German Guilt“) publiziert.

Und wie das bei geschickten Mehrfachverwertern nun einmal Usus ist, reproduziert diese Buchbindersynthese kaum mehr als zwei Gedanken, die der Autor lediglich wortreich auswalzt. Gross hat nämlich zum einen die ungeheure Entdeckung gemacht, daß die deutsche Gesellschaft, die „Volksgemeinschaft“, während der NS-Herrschaft nach herkömmlichen sozialpsychologischen Gesetzen funktionierte, die jedoch eine spezifische NS-Aufladung und Akzentuierung von Ehre, Unehre („Schande“, „Rassenschande“), Treue und Kameradschaft erfahren hätte.

Deren Kern liege in ihrer „antiuniversalistischen Ausrichtung“. Der somit als „völkisch“ und „partikularistisch“ bezeichnete Wertkodex des Nationalsozialismus, so lautet Gross’ zweite These, sei von der ausufernden Nachkriegsdiskussion über „Schuld“ und „Kollektivschuld“ verschont worden, der Analyse und Bewältigung somit entzogen worden. Mit der Folge, daß er selbst noch die Dramaturgie von Bernd Eichingers Filmepos „Der Untergang“ (2004) und letztlich sogar die Mentalität der Bundesdeutschen im 21. Jahrhundert dominiere. „Völkische Moralvorstellungen“, auch von „Naturrechts“-Advokaten wie Fritz von Hippel nicht hinterfragt, wirken also aus Gross’ Perspektive bis in die Gegenwart fort.

Die Deutschen, so glaubt er, seien nach wie vor davon überzeugt, für verschiedene Völker gälten verschiedene moralische Normen. Da Gross dies aber zum Axiom der NS-Moral erklärt, steht kaum verhüllt die Anklage im Raum, dem sporadischen Wahl-Frankfurter mute man zu, „unter Nazis“ leben zu müssen.

Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2010, 278 Seiten, gebunden, 19,95 Euro

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