© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Die Unentschiedenen sitzen im Sumpf
Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler analysiert die politische und gesellschaftliche Mitte
Günter Zehm

Wer über Mitte und Maß schreiben will, darf nicht selber mittelmäßig sein. Das ist das Problem von Herfried Münkler, den Berliner Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker, dessen Buch „Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung“ leider nur mittelmäßig geraten ist. Es faßt die Problematik des Mitteseins durchaus übersichtlich zusammen, liefert viele Fakten und am Ende ein gewaltiges Literaturverzeichnis. Doch zur Klärung der Begriffe trägt es wenig bei.

Münkler gilt als Schöpfer der Formulierung vom „asymmetrischen Krieg“. Gern hätte man erfahren, ob der in seinem neuen Buch annoncierte „Kampf um die richtige Ordnung“ nun symmetrisch oder asymmetrisch ist, wie darin also die Kräfte verteilt sind und wie es um mögliche Siege oder Niederlagen bestellt ist. Aber darüber wird man nicht belehrt, höchstens in Verwirrung gestürzt. Am Ende weiß man nicht einmal, ob es überhaupt eine politische Mitte gibt oder ob das von den Akteuren nur behauptet wird.

Vielleicht liegt die Kalamität auch darin, daß Münkler seinen Bogen allzu weit gespannt hat. Es gibt bei ihm ein großes Kapitel über „Mitte und Raum“, über Mittelmächte, geopolitische Mittellagen und Einkreisungsängste, doch was hat diese – durchaus interessante – Thematik mit dem eigentlichen Thema des Buches zu tun, dem uralten politisch-ethischen Streit um das „rechte Maß“ und den „goldenen Mittelweg“? Faktisch nichts, muß man wohl sagen, solches Zusammenquirlen schafft nur Irritationen.

Als gäbe es von der Sache her nicht schon Irritationen genug. Denn einem machtvollen Lobpreis der Mitte als absolut notwendigem Lebens- und Herrschaftsprinzip stand von Anfang an eine kaum weniger machtvolle Verachtung der Mitte entgegen, ja Lobpreis und Verachtung artikulierten sich oft in ein und derselben Person. Zwischen Mittelmaß und Mittelmäßigkeit klafften Abgründe, auch in Sprachen, die ein gemeinsames Wort dafür hatten, wie das Lateinische mit seiner mediocritas.

Mediocritas in omni re est optima („das Mittelmaß in allen Dingen ist das Beste“) – so stand und steht es seit der Antike in zahllosen städtischen Wappen eingeschrieben, beispielsweise im Wappen von Lübeck. Andererseits troffen die Lippen allererster Geistesgrößen über die Zeiten hinweg vom Hohn über die Mediocritas. „Nichts ist dem Mittelmäßigen so verhaßt wie geistige Souveränität“, donnerte etwa Stendhal, „da sprudelt die Quelle des Hasses und der schrecklichsten Gehässigkeiten.“

Das Urteil des gesunden Menschenverstandes freilich steht fest: Der „mittlere Weg“ ist immer der beste. Er ist vielleicht nicht in jedem Fall der „goldene Weg“, aber er ist der Weg der Gesundheit. Man soll im Leben nichts übertreiben, schon um der Gesundheit willen, man soll stets das rechte Maß anstreben, beim Essen und beim Fasten, beim Arbeiten und beim Ausruhen, beim Reden und beim Schweigen. Gibt es denn aber auch in der Politik jenes „gesunde“ Mittelmaß, auf das sich die Menschen einigen können und vor allem sollen? Staaten und andere überfamiliäre Gemeinschaften sind ja keine Individuen mit einem gleichsam natürlichen Maßhalteplan im Tornister. Sie integrieren Interessengruppen der unterschiedlichsten Art; die einen wollen expandieren, die anderen ihre Ruhe haben, die einen wollen verändern, die anderen „das Erreichte sichern“. Wo ist da Mitte?

Sicher, die politische Rhetorik ist so gut wie immer am individuellen Gesundheitsmodell orientiert; jeder Politiker tritt in seinen Reden für das ein, was allen am besten bekommt, also für das rechte Maß. Das heißt aber noch lange nicht, daß er dieses Maß auch wirklich vertritt oder daß er überhaupt weiß, was es wirklich ist. Sondern er nimmt das rechte Maß lediglich auf all seinen Wegen mit und pflanzt es nach Belieben auf („Wo ich bin, da ist die Mitte!“). Der berühmte „Kampf um die Mitte“, um den Münkler soviel Aufhebens macht, ist nichts weiter als ein Test darüber, wer lauter „Mitte“ schreien kann.

Faktisch sämtliche politischen Strömungen, seitdem es Politik gibt, haben die Metapher des rechten Maßes verwendet, selbst die radikalsten revolutionären Gruppen, die mit ihren Umsturzversuchen angeblich immer nur die Gesellschaft „ins rechte Maß zurückbringen“ wollten. Erst im neunzehnten Jahrhundert gab es im Gefolge der Französichen Revolution von 1789 eine Ausnahme. Das Revolutionsparlament teilte sich in gemäßigte Girondisten und radikale Jakobiner auf, und dazwischen, also in der Mitte, saßen die Unentschiedenen, „der Sumpf“, wie die Revolutionäre verächtlich sagten.

Danach spalteten sich viele Parlamente in „Rechte“ und „Linke“ auf; man verzichete deshalb aber keineswegs auf die Mitte-Rhetorik, ganz im Gegenteil. Jede Seite beanspruchte weiter, allein die Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren und das rechte Maß zu halten. Heute haben in Deutschland im Zeichen der allgemeinen Gleichmacherei und ethischen Promiskuität die Linken gesiegt, und alle zugelassenen Parteipolitiker sind einerseits links und gleichzeitig allesamt für die Mitte. Der Kampf um die richtige Ordnung scheint entschieden. 

Was bleibt, sind Gespensterkämpfe im Souterrain, wo es nur noch darum geht, wieviel Geld der einzelne „Sozialteilnehmer“ am Monatsende herausbekommt und was wem eventuell vom Staat weggenommen wird, damit dieser – seine Lieblingsbeschäftigung! – „umverteilen“ kann. Es gibt bekanntlich eine „Mittelschicht“, weder arm noch allzu reich, die der eigentliche Garant gesellschaftlicher Wohlfahrt ist, und es findet zur Zeit offenbar eine „Erosion der Mittelschicht“ statt. Alle herrschenden Parteien „des Maßes und der Mitte“ machen sich nun Sorgen, daß ihnen das beim Wählervolk Minuspunkte eintragen könnte und daß dadurch die gegenwärtige Machtlage ins Rutschen gerät.

Herfried Münkler zeichnet diesen Prozeß im letzten Kapitel seines Buches getreulich nach, und selbstverständlich ist auch er einerseits links und gleichzeitig für Maß und Mitte. Wie sollte er auch anders, als Politologe? Er hat ein Buch über Politiker für Politiker geschrieben. Die gewissermaßen naturwüchsige politische Wirklichkeit indessen sieht anders aus.

Einem linken Parteienkartell, das von den Kommunisten über SPD und Grüne bis zu CDU und CSU reicht, steht ein „populistischer Sumpf“ gegenüber, der einen beträchtlichen Teil des wahlfähigen Volkes hinter sich hat, bisher aber trotzdem von der offiziellen Politik ferngehalten werden konnte. Mit Maß und Mitte hat das wenig zu tun. Doch es wird nicht so bleiben.

Herfried Münkler: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Rowoht Verlag, Berlin 2010, gebunden, 300 Seiten 19,95 Euro

Foto: Angela Merkel vor ihrem CDU-Sinnspruch: „Nichts ist dem Mittelmäßigen so verhaßt wie geistige Souveränität“

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