© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Der Wert wird uns bestimmt werden
Eberhard Straub warnt vor einer zivilgesellschaftlichen Wertediktatur
Erik Lehnert

Im Jahr 1959 hielt Carl Schmitt einen Vortrag über „Die Tyrannei der Werte“, der zunächst nur als Privatdruck Verbreitung fand, später aber noch mehrfach nachgedruckt wurde. Der Historiker und Essayist Eberhard Straub wandelt auf diesen Pfaden, hat aber schon im Titel seinen Anspruch Schmitt gegenüber relativiert. Während Schmitt einen Zustand beschreibt, umkreist Straub ein Phänomen, ohne es endgültig packen zu können. Dafür benötigt er wesentlich mehr Platz als Schmitt, der damals auf etwas mehr als ein Dutzend Seiten kam. Die Länge geht bei Straub auf Kosten der Präzision.

Schmitt wird bei Straub nur zweimal explizit genannt, obwohl er dessen Kerngedanken, daß Werte immer jemanden brauchen, der sie zur Geltung bringt, mehrfach variiert. Die Formel von der „Tyrannei der Werte“ stammt allerdings nicht von Schmitt, sondern von dem Philosophen Nicolai Hartmann, der sie erstmals 1926 in seiner „Ethik“ gebraucht, um darauf hinzuweisen, daß der Wert die tyrannische Eigenschaft hat, andere Werte zu entwerten. Da diese Einsicht völlig in Vergessenheit geraten zu sein scheint, muß man Straub dankbar sein, daß er dieses Argument in neuer Form präsentiert.

Auch heute sind Kritiker der gegenwärtigen Zustände schnell mit einem Loblied auf die Werte, die es wieder zu beachten gelte, bei der Hand. Sie übersehen dabei, daß in Deutschland gegenwärtig sehr wohl Werte gelten, nur eben andere als sich das die Kritiker jeweils wünschen. Es spricht wenig dafür, daß der Appell an Werte diese wieder zum Leben erweckt, wenn die anderen Werte so ungleich stärker durchgesetzt werden. Werte, die nicht durchgesetzt werden, sind wertlos. Was im ersten Moment paradox klingt, erschließt sich durch Straubs Blick auf die Geistesgeschichte der letzten 150 Jahre.

Straubs Buch macht deutlich, wie es zu den Mißverständnissen und der Hochschätzung der Werte kam. Den Ausgangspunkt sieht er im Historismus des 19. Jahrhundert, der alles Seiende relativierte. Verschiedene Standpunkte waren möglich und durch Interpretation sollte dem jeweils eigenen Geltung verschafft werden. Auf der anderen Seite stand die erwachende Sehnsucht nach dem Echten bzw. nach einem Halt außerhalb der greifbaren Gegenwart. Konkret macht Straub das an der Person Nietzsches fest, den er, wenig überzeugend, in einer Doppelrolle zwischen Umwerter und Romantiker sieht.

Es gab jedoch, so Straub, keine Alternative zu den Werten: „Als Zeitgenossen des zur Reife gekommenen Kapitalismus konnten sie sich nur in Werte flüchten, um damit, wie Karl Marx spottete, die ganz praktischen Verwertungsmechanismen und Mehrwertanhäufungen mit einer Ideologie der Werte hinter einer feierlich verzierten Fassade zu verbergen.“ Das überhöht Straub zu einem Gegensatz zwischen Bürger und Ritter. Der mehrwertorientierte Bürger bleibe auf seine Subjektivität beschränkt und brauche daher einen Wert, auf den er sein Leben beziehen kann: Staat, Nation, Volksgemeinschaft. Das Ganze sei ihm nicht mehr selbstverständlich, weil der Bezug zur Transzendenz fehle.

Straub rekonstruiert weiter die Entstehung der Hochschätzung für die Werte anhand der Wertphilosophie, wie sie insbesondere von Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband vertreten wurde. Bis zum Ersten Weltkrieg konnte diese Philosophie gleichsam heimliche Ideologie des Kaiserreichs sein: Was wertvoll ist, setzt sich durch. Das sah nach der Niederlage anders aus, die nach dieser Lesart die deutschen Werte negiert hatte. Dennoch war der Siegeszug der Werte nicht aufzuhalten.

Im Gegenteil: Er hält bis heute an und feierte, so Straub, mit der Gründung der Bundesrepublik, dem Fürsorgestaat und dem zivilreligiösen Verfassungspatriotismus einen ungeahnten Triumph, der die eigentlichen Abhängigkeitsverhältnisse auf den Kopf stellte: „Nicht ein Menschenbild des Grundgesetzes und ihr gemäße Verfassungslyrik erlauben ein Leben in Freiheit, vielmehr kann sich die vorstaatliche, dem Menschen eigene Würde und Freiheit nur im Staat und unter dem Schutze des Rechtes entfalten.“

Daher blickt Straub in eine düstere Zukunft. Wenn die Rechtsordnung des Staates durch eine Werteordnung ersetzt wird, heißt das nichts anderes, als daß eben alles relativierbar wird. Je nachdem, welche Werte geschätzt werden, danach wird Recht gesprochen. Ohne daß er Beispiele aus der Gegenwart bemüht, dürfte klar sein, worauf sich das bezieht: die zunehmende Einflußnahme der Zivilgesellschaft, die ihre Werte auch in der Rechtsprechung verwirklicht sehen möchte.

Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte. Klett-Cotta, Stuttgart 2010, gebunden, 171 Seiten, 17,95 Euro

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