© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Glanz, Versagen und Opferbereitschaft
Jochen Thies porträtiert die wichtigsten Köpfe der Familie Moltke zwischen den schicksalhaften Orten Königgrätz und Kreisau
Herbert Ammon

Nun also die Moltkes. Jochen Thies, Verfasser eines Buches über die Dohnanyis, eröffnet seine „deutsche Familiengeschichte“ mit Stimmungsbildern der Orte, an denen der geschichtsträchtige Name Moltke in Erscheinung tritt: am Großen Stern mit dem Standbild des Sedan-Siegers in Berlin, etwas weiter, an der Moltkebrücke, wo noch nach Hitlers Selbstmord blutige Endkämpfe stattfanden, in Toitenwinkel bei Rostock, Stammsitz der im mecklenburgischen Uradel verwurzelten Familie, in Parchim, Geburtsort des Generalfeldmarschalls, schließlich in Kreisau. Einige Fußminuten oberhalb des renovierten Schlosses liegt das Berghaus, wo die drei Besprechungen des „Kreisauer Kreises“ über den deutschen Reichsaufbau nach Hitler stattfanden. „Der Blick aus dem Fenster in die schlesische Landschaft war beeindruckend und auch ein wenig imperial.“

Das moderate Bild ist auch ein wenig kennzeichnend für das ganze Buch.  Thies spannt den Bogen vom Sedan-Sieger Helmuth Karl Bernhard von Moltke (der „ältere Moltke“; 1800–1891), über dessen in der Marne-Schlacht im September 1914 gescheiterten Neffen (der „jüngere Moltke“; 1848–1916) und über den „Kreisauer“ Helmuth James (1907–1945) bis zu den in Wirtschaft und Diplomatie tätigen Moltkes der Gegenwart. Eingefügt sind Porträts von Helmuth James‘ südafrikanischer Mutter Dorothy, Tochter des hochrangigen Juristen Sir James Rose Innes (1855–1942), sowie von seiner Witwe Freya von Moltke (1911–2010).

In Bachelor-Zeiten, da historisches Grundwissen über den „großen Schweiger“ nicht zum Bildungskanon gehört, bietet das erste Kapitel über den preußischen Generalfeldmarschall viel Wissenswertes. Eher durch Zufall, bei einer Reise nach Konstantinopel, gelangte der junge Moltke, ausgestattet mit Disziplin, Bildung und zeichnerischer Begabung, zur Rolle als Militärberater des Sultans. Doch wie kam ein Mann mit vornationaler Prägung, in dänischen Diensten zum Offizier ausgebildet, zu deutlich bekundetem Nationalgefühl? Der erstmals im Revolutionsjahr 1848 von dänischer Seite national zugespitzte Streit um Schleswig-Holstein kommt hier zu kurz. Deutlich werden dagegen Moltkes Konflikte mit Bismarck, so vor der Annexion Elsaß-Lothringens nach 1870.

In dem Porträt des „jüngeren Moltke“ wird die Figur eines kränklichen, entscheidungsschwachen Mannes, der sich selbst für das Amt an der Spitze des Generalstabs für überfordert hielt, plausibel. Was fehlt, ist die Rolle Moltkes in der Julikrise, das verhängnisvolle, sich zur Eskalation ausweitende Zusammenspiel mit dem k.u.k. Generalsstabschef Franz Conrad von Hötzendorff. Das Manko wird nicht aufgewogen durch die Schilderung des Zusammenstoßes Moltkes mit Kaiser Wilhelm II. auf dem Koblenzer Bahnhof, der am 3. August 1914 den bevorstehenden Angriff plötzlich anhalten wollte.

In dem Kapitel zu Helmuth James konnte der Autor auf die Biographien von Günter Brakelmann und Jochen Köhler zurückgreifen. Im Kapitel über Freya ist zu erfahren, das Helmuth James „einmal aus Protest seine Stimme der KPD geben wollte“, worauf ihm sein stets loyaler Gutsinspektor, ein NSDAP-Mitglied, riet, die Stimme dann der Auffälligkeit halber doch lieber in Berlin abzugeben. Daß es sich um die Reichspräsidentenwahl im Entscheidungsjahr 1932 handelt, erfährt der Leser indes nicht. Präzis geschildert werden Moltkes bis zum Schluß gehegte Hoffnungen sowie Freyas klug gezielte Vorstöße zur Rettung ihres Gatten bei Gestapo-Chef Heinrich Müller, dem Stellvertreter Himmlers. Anschaulich wird auch das Kriegsfinale sowie der von Amerikanern, unter ihnen der aus Schlesien stammende Geheimdienstoffizier Gero von Schulze-Gaevernitz, und Briten dringend nahegelegte Abschied von Kreisau im Herbst 1945.

Dem Lektorat sind Fehler in mehr als tolerablem Maße entgangen. Unter Presbyterianern, Konfession der schottischen Einwandererfamilie Rose Innes, gibt es keine „Priester“. Der von Helmuth James geschätzte kroatische Bauernführer Stjepan Radić war alles andere als ein „Kommunist“. Historisch abwegig ist ein Passus, der die von den „Kreisauern“ angestrebte Neuordnung, begründet in christlich-personalistischen Ideen, in Beziehung zu Titos Selbstverwaltungssozialismus „nach 1945“ rückt.

Gespür für Widersprüche ist Thies’ Sache nicht. Das in Abgrenzung zu Weimar konzipierte konservative Staatsmodell wird an anderer Stelle für „autoritär“ erklärt. Nichts erfahren wir über das Entsetzen von Dorothys Vater Rose Innes über die Friedensbedingungen von Versailles, wenig über die bitteren, blutigen Konflikte um Oberschlesien. Ein Freikorps unter von der Goltz habe sich auf Kreisau „eingenistet“. In Moltkes Lebensbericht an seine Söhne aus dem Gefängnis liest es sich anders. Man war 1921 offenbar alles andere denn widerwilliger Gastgeber.

Orientiert an Andreas Hillgruber, hält Thies Hitlers Weltherrschaftspläne allerorts schon vor 1933 für erkennbar. Daß sich Dorothy nach Lektüre von „Mein Kampf“ keine Illusionen machte, hinderte sie nicht, im Herbst 1933 Hitler als gemäßigt wahrzunehmen. Warum erwärmten sich zwei Moltke-Brüder für Partei bzw. SA? Unerwähnt bleiben zwei von Brakelmann genannte Briefstellen. Im September 1939 schrieb Moltke an Freya, er wisse aus verläßlicher Quelle, „wir seien in den Krieg hineingeschliddert.“ Die Quelle war vermutlich sein  bis zum 9. August 1939 in Warschau als Botschafter tätiger Onkel Hans-Adolf von Moltke, was dem Leser verschlossen bleibt. Die von schwankenden Stimmungen gekennzeichneten Beziehungen zwischen Neffe und Onkel werden hingegen dargestellt. Ebenso fehlt Moltkes seltsam naiv anmutendes Plazet vor dem 22. Juni 1941 in einer Briefstelle, wo er – ganz anders als Beck und Dohnanyi – im Angriff auf die Sowjetunion „eine Chance“ sehen wollte.

In den Personen des älteren Moltke und Helmuth James „spiegeln sich deutsche Tragödien wider“. Am Sedan-Sieger zielt der Begriff vorbei. Eher findet er im jüngeren Moltke, dem Taufpaten von Helmuth James, den klassischen Protagonisten. Ausgerechnet er, Rudolf Steiner in anthroposophischer Geistesfreundschaft eng verbunden, schlug beim halb erzwungenen Abgang Ludendorff als Nachfolger vor. Ihren Höhepunkt findet die Tragödie in den Versuchen der „verlassenen Verschwörer“, die Westmächte für ihre Rettungspläne des Reiches zu gewinnen. Bei seinen zwei Reisen  nach Istanbul wartete Helmuth James vergeblich auf ein Treffen mit dem ihm  bekannten US-Botschafter Alexander Kirk. Es kam nur ein Emissär des US-Geheimdienstes, der ihm angeblich die Zustimmung zum bedingungslosen Kapitulation abnötigte. Davon erfahren wir hier leider nichts.

Dem in Rauschen/Ostpreußen 1944 geborenen Autor, langjähriger Journalist beim Deutschland-Radio Kultur fehlt es an Mut, seine Familiengeschichte zur Dramatisierung der deutschen Tragödie in aller bitteren Schärfe auszureizen. Seine Mahnung, der Name Moltke sei in einem „selbstbewußter gewordenen Deutschland“ nicht allein auf die Erinnerung an „Kreisau“ zu beschränken, dürfte in  Christian Wulffs „bunter Republik“ verhallen.

Foto: Der „große Schweiger“ Helmuth von Moltke, Helmuth James von Moltke im Kreise der Famile 1931 und vor Freislers Volksgerichtshof 1944, Gut Kreisau und Ehefrau Freya von Moltke und Helmuth von Moltke „der Jüngere“ 1914, (von links): Spiegel der deutschen Tragödie

Jochen Thies: Die Moltkes. Von Königgrätz nach Kreisau. Eine deutsche Familiengeschichte. Piper Verlag, München 2010, gebunden, 379 Seiten, 22,95 Euro

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