© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Revisionismus ist machbar
Erika Steinbach, das Alleinschuld-Dogma und ein vergessenes Karlsruher Urteil über die Freiheit der Forschung
Dirk Glaser

Harte Zeiten für unsere Wächterräte. Zuerst ging der Versuch, Thilo Sarrazin mit der probaten NS-Keule zu erledigen, gründlich in die Hose. Dann mußte sich der dabei ganz vorn mitmischende Frankfurter Zentralrat der Juden von Chaim Noll aus Jerusalem „Unbildung“ und mangelndes „Grundwissen“ über die jüdische Religion ankreiden lassen (FAZ vom 4. September).

Kaum war etwas Ruhe im Karton, als Erika Steinbach (CDU) das nächste Faß aufmachte mit ihrer Bemerkung über die frühzeitige polnische Mobilmachung im März 1939 (JF 38/10). Unserer Gedankenpolizei bot dies die Chance, die Sarrazin-Scharte auszuwetzen und die Vertriebenenpräsidentin als „revisionistische“ Leugnerin deutscher „Alleinschuld“ am Zweiten Weltkrieg vorzuführen. Was wiederum einen Einspruch aus Israel provozierte. Im Focus (39/2010) klagte der Militärhistoriker Martin van Creveld über die zunehmende Bedrohung der Meinungsfreiheit in den „Ländern des Westens“, speziell über die exaltierte Politisierung von Wissenschaft und Forschung in Deutschland, wo die „höchsten Hürden für das freie Denken um den Nationalsozialismus und den Holocaust“ errichtet würden.

Um Ordnung in dieses geschichtspolitische Chaos zu bringen, bedarf es nicht des „Auschwitz-Mythos“, wie das der Mannheimer Zeithistoriker Peter Steinbach neuerdings ohne Anführungszeichen nennt (Frankfurter Rundschau vom 29. September). Denn dafür genügt die Erinnerung an einen ebenso denkwürdigen wie vergessenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 1994, der die Hysterie um Erika Steinbachs Einlassung wie eine Gespensterdebatte erscheinen läßt.

Kriegsschuldfrage mit hohem ideologischem Stellenwert

Dieser BVerfG-Beschluß hat eine lange Vorgeschichte. Udo Walendy, am Berliner Otto-Suhr-Institut diplomierter Politologe, NPD-Aktivist, vom Grass-Jahrgang 1927, und somit 1944/45 noch im Fronteinsatz, meinte seine Reichsverteidigung als westdeutscher Publizist unblutig fortsetzen zu müssen und veröffentlichte 1964 seine kaum mehrheitsfähigen Ansichten über die Kriegsschuld von 1939 unter dem Titel „Wahrheit für Deutschland“. 1976 erreichte die Zitatensammlung eine dritte Auflage.

Da erst fühlte sich die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften alarmiert. 1979 entschied diese Zensurstelle, das Buch auf den Index zu setzen, da es mit seiner Hauptthese, der Zweite Weltkrieg sei dem Deutschen Reich von seinen Feinden aufgezwungen worden, geeignet erscheine, pubertäre Leser „sozialethisch zu verwirren“. Walendy beschritt dagegen den steinigen Rechtsweg. Vor dem Verwaltungsgericht verlor er, vor dem Oberverwaltungsgericht obsiegte er, weil die Bundesprüfstelle nicht einmal ein Sachverständigengutachten eingeholt und quasi nach Gutherrenmanier indiziert hatte. Das Bundesverwaltungsgericht ließ den Kläger 1987 dann wieder auf Los zurückgehen, da die Berliner Juristen den Zensoren zubilligten, auch ohne fachlich-historischen Rat verbieten zu dürfen. Denn die Unrichtigkeit der Grundthese sei doch wohl „allgemeinkundig“ und folglich gar nicht „beweisbedürftig“.

Für Walendy blieb danach nur noch die Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung seines Grundrechts rügte, als Wissenschaftler frei forschen zu dürfen (Artikel 5, Absätze I und III des Grundgesetzes). Der seiner Beschwerde schließlich stattgebende und die Verfügung der Bundesprüfstelle aufhebende BVerfG-Beschluß, veröffentlicht im 90. Band (1994) der Karlsruher Entscheidungssammlung, ist ein Glanzstück juristischer Argumentationskunst, couragierten Richtertums, ein gewichtiger Beitrag zum Schutz der Freiheit von Wissenschaft und Forschung – und trotzdem verschwand er sang- und klanglos in der Schweigespirale.

Bei dem sich bald anschließenden Gezerre über die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Sanktion der „Auschwitzlüge“ spielten die Karlsruher Reflexionen, an denen mit Dieter Grimm und Al­fred Söllner zwei renommierte Rechtswissenschaftler beteiligt waren, darum kaum noch eine Rolle. Nur Außenseiter wie der Hamburger Rechtsanwalt und Merkur-Autor Horst Meier rekurrierten unentwegt auf die Leitgedanken des Beschlusses, während Rechtspolitiker parteiübergreifend darüber sinnierten, ob Zweifler an der deutschen „Alleinschuld“ am Kriegsausbruch am 1. September 1939 nicht ebenso hart angepackt werden müßten wie notorische Holocaust-Leugner.

Die jüngste Aufgeregtheit über Erika Steinbachs Bemerkung zur polnischen Mobilmachung zeigt, welch enormer ideologischer Stellenwert der „Kriegsschuldfrage“ 1939 bis heute beigemessen wird. Wenn der Bundesaußenminister Guido Westerwelle, studierter Jurist ohne geschichtswissenschaftliche Reputation, sich aus London im ausgewiesenen Fachorgan Bild-Zeitung zu Wort meldet und dekretiert, die deutsche „Alleinschuld“ dürfe nicht „relativiert“ werden, wenn andere Hobby-Historiker seines Formats Steinbach als „Revisionistin“ denunzieren, bis diese dann reumütig „bekennt“, der „irre Hitler“ habe allein alles zu verantworten, sind wir von der Schauprozeß-Atmosphäre totalitären Gepräges nicht mehr allzu weit entfernt. Nur mindestens semi-totalitäre Gesellschaften benötigen derart „sinnstiftende Geschichte“, um den sozialen Zusammenhalt zu festigen. Westerwelles Amtsvorgänger Joschka Fischer, der die „Staatsraison“ der Bundesrepublik auf Auschwitz vereidigen wollte, stand für dieses dogmatische Geschichtsverständnis ein. Die DDR, mit ihrer von der SED diktierten „Parteilichkeit“ einer nach „Fortschritt“ und „Reaktion“ unterscheidenden Historiographie, vermag hier vermutlich inzwischen Maßstäbe für die Berliner Republik zu setzen, die sich soeben mit Jan-Hendrik Olbertz, dem neuen Präsidenten der Humboldt-Universität, einen ehemaligen Verfechter „leninistischer Ethik“ als akademischen Spitzenfunktionär gönnt.

Dabei hülfe ein Blick in den BVerfG-Beschluß, um den überfälligen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) anzustoßen. Von dem Prozeßgegenstand freilich, Walendys Buch, muß man zuvor absehen. Das ist, wie fast alle zeithistorischen Handreichungen, die das Signet der rechten Verlage Grabert, Druffel, Arndt et al. tragen, von unsäglichem Dilettantismus hoffnungslos getränkt und wissenschaftlich kaum satisfaktionsfähig. Aber der Politik und ihren Vorfeldorganisationen wie Bundesprüfstelle oder Verfassungsschutz haben die Karlsruher Richter gleichwohl unübersehbar ins Stammbuch geschrieben, daß sich die deutsche Zeitgeschichte ihrer Bevormundung entziehe.

Geschichtsinterpretationen im „Kernbereich des Schutzes“

„Äußerungen zur Geschichtsinterpretation, insbesondere solche, die sich auf die jüngere deutsche Vergangenheit beziehen“, fallen auch als „Beitrag zur politischen Meinungsbildung“ in den „Kernbereich des Schutzes“, den Artikel 5 Absatz I des Grundgesetzes gewährleistet, so die obersten Richter. Ein demokratischer Staat, der diesen Namen verdiene, vertraue grundsätzlich darauf, daß sich in der „offenen Auseindersetzung zwischen unterschiedlichen Meinungen ein vielschichtiges Bild“ ergebe, dem gegenüber sich einseitige, also auch auf „Verfälschung von Tatsachen“ oder einfach nur auf „schlechter Wissenschaft“ (wie bei Walendy) beruhende Auffassungen gar nicht durchsetzen könnten. „Die freie Diskussion ist das eigentliche Fundament der freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft.“

Daher nahm das BVerfG auch eine schwerlich zu überschätzende Umwertung jenes heute so bedenkenlos pejorativ verwendeten Begriffs vor, mit dem sich einst die Mörder der Tscheka gegen die „Revisionisten“ geschimpften „Abweichler“ von der reinen Lehre des Marxismus-Leninismus herbeipfeifen ließen. Ein Begriff, der nach 1945 in Deutschland zur polemischen Formel mutierte im Kampf gegen „Abweichler“ von der „herrschenden Meinung“ in der NS-Historiographie. Die Forschung zu den Ursachen des Zweiten Weltkriegs, so stellte das BVerfG klar,  sei „noch im Fluß“ und könne nicht durch „staatliche Fremdbestimmung“ zementiert werden. Deshalb blieben auch „herrschende Meinungen“ prinzipiell „der Revision und dem Wandel unterworfen“.

Diese Rehabilitierung des Revisionismus als des ureigensten Geschäfts des Historikers, jedes Wissenschaftlers, das richterliche Beharren auf „Offenheit und Wandelbarkeit von Wissenschaft“, auf „Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit“ der Suche nach der Wahrheit, zielte ausdrücklich auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Gerade die Frage der „Schuld“, auch nur verstanden im Sinne der „Verursachung“, entziehe sich bereits einer Beantwortung durch „reine Tatsachenbehauptung“. Sie erfordere vielmehr „wertende Beurteilung“. Dies gelte erst recht, wenn man aus dem Tatsachenkonglomerat ein „bestimmtes Geschichtsbild“ konstruiere, das in jedem Fall „Ergebnis einer Interpretation komplexer historischer Sachverhalte und Zusammenhänge“ sei.

Vernichtender ist von staatstragender Seite kaum über den herrschenden geschichtspolitischen Primitivismus und Dogmatismus geurteilt worden. Die noch druckfrische jüngste Entscheidung aus Karlsruhe gegen die Bundeszentrale für politische Bildung (JF 40/10 und aktuelle Ausgabe) liegt ganz auf dieser Linie und berechtigt zur Hoffnung, unsere geschichtspolitischen Wächterräte werden künftig zurückhaltender zur Gesinnungstreibjagd blasen.

Foto: Der Verfassungsrichter schützt die historische Forschung: Herrschende Meinungen bleiben prinzipiell der Revision und dem Wandel unterworfen

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