© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Wahrzeichen mit originaler Glocke
JF-Serie Rekonstruktionen (1. Folge): Im nordrhein-westfälischen Wesel wird die Fassade des historischen Rathauses wiedererrichtet
Claus-M. Wolfschlag

Im Wiederaufbau befindet sich derzeit das historische Rathaus im nieder-rheinischen Wesel. Sandsteine lagern in großer Menge auf dem Marktplatz, um einem erst 1994 errichteten modernen Gebäude vorgeblendet zu werden.

Wesel war ab 1407 Mitglied der Hanse. Als Knotenpunkt der Wareneinfuhr aus Westfalen und den Niederlanden entwickelte sich die Stadt nach Köln zum wichtigsten Umschlagplatz der Region. Auch die Tuchherstellung trug zum Wohlstand der Kommune bei, und dieser manifestierte sich optisch in dem ab 1455 errichteten Rathaus, das zu den bedeutendsten niederrheinischen Profanbauten im Stil der flämischen Spätgotik gezählt wird. Im Februar 1945 wurde Wesel durch Bombenangriffe fast vollständig (97 Prozent) zerstört. Die Innenstadt glich in Luftaufnahmen einer Mondkraterlandschaft. Dementsprechend wenig hat sich an Bauwerken der alten Hansestadt erhalten, darunter nur noch die stadtbildprägende wiederhergestellte evangelische Willibrordikirche und das Berliner Tor.

1986 gründete der Weseler Unternehmer Siegfried Landers zusammen mit Freunden die „Bürgerinitiative Historisches Rathaus Wesel“ als Reaktion auf eine drohende moderne Bebauung des Südrandes des Großen Marktes. Diese Südseite war seit dem Krieg leer geblieben, der zentrale Platz der Stadt also städtebaulich immer noch nicht gefaßt. Die Mehrheit im Rat der Stadt Wesel konnte sich anfänglich trotz der Zustimmung in weiten Teilen der Bevölkerung nicht mit der Idee anfreunden, das historische Rathaus zu rekonstruieren. So wurde dort 1992 die sogenannte Trapp-Zeile – eine Reihe postmodern anmutender Giebelhäuser – gebaut und 1994 eingeweiht. Der alte Platz war nun zwar wieder geschlossen, doch die nüchterne, fast monotone Bebauung führte immer wieder zu Kritik aus der Bürgerschaft. Allerdings hatte der Bauunternehmer Ernst-Joachim Trapp gemeinsam mit der Bürgerinitiative vorausblickend bewirkt, daß ein Haus der Zeile in der originalen Breite des einstigen Rathauses errichtet wurde. So bewahrte man sich die Möglichkeit einer nachträglichen Rekonstruktion, für die man ab 2003 auch wirklich Geld sammelte. Das hartnäckige Vorgehen der Bürgerinitiative führte dazu, daß der Rat der Stadt und das Land Nordrhein-Westfalen umschwenkten und das Projekt schließlich finanziell unterstützten. Die Finanzierungsanteile des Bauumfangs von rund 2,7 Millionen Euro wurden prozentual aufgeteilt: 50 Prozent Privatspenden, 35 Prozent gibt das Land NRW, 15 Prozent die Stadt Wesel. Derzeit hat die Bürgerinitiative 1,2 Millionen Euro teils über Bausteinverkäufe gesammelt, so daß ihr nur noch etwa 150.000 Euro zur vollständigen Finanzierung fehlen.

Der Grundstein wurde schon 2007 gelegt, aber erst in diesem Sommer konnte mit dem Verlegen der Fassadensteine begonnen werden. Die gotische Fassade mit Spitzbogenfenstern und feinen Fialen wird dem bestehenden Haus vorgehängt. Die dazu nötigen Sandsteine sind bereits von einer Weimarer Firma gefertigt worden, so daß auf dem Marktplatz weitgehend nur noch der Zusammenbau stattfindet. Das Verfahren der Umwandlung eines bestehenden Hauses scheint nicht so abwegig, wenn man bedenkt, daß auch das originale Rathaus einst durch den Umbau zweier bestehender Bürgerhäuser entstand, denen man die Schmuckfassade aus Sandstein vorbaute.

Als einziges Originalteil wird die gerettete Rathausglocke in Zukunft wieder im Turm des Gebäudes hängen. Nach derzeitigem Plan soll die Fassade noch in diesem Herbst wiedererrichtet sein. Eine alte Hansestadt wird dann wieder über ein Wahrzeichen verfügen, das an seine reiche Geschichte zu erinnern imstande ist. www.historisches-rathaus-wesel.de

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