© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Zeitschriftenkritik: Geo Magazin
Latte macchiato statt Braunkohle
Christian Vollradt

Wer glaubt, man könne nichts Spannendes über das Thema Wahrscheinlichkeitsrechnung schreiben, wird im aktuellen Heft des Reportagemagazins Geo eines Besseren belehrt. Roland Schulz porträtiert in „Darrens Dreizehn“ die Arbeit einer kleinen Agentur in London, die als Frühwarninstrument des Europäischen Fußballverbandes rund um die Uhr den internationalen Sportwetten-Markt beobachtet und Manipulationen abzuwehren trachtet. Diese Schnittstelle von Statistik, Sport und Kriminalität wird eindrucksvoll nahegebracht, obwohl man weder erfährt, um welche manipulierte Partie es geht, noch ob Schuldige gefunden, geschweige denn bestraft worden sind.

Weitaus bunter geht es in Nigeria beim Emir von Kano zu, einem Monarchen aus vorkolonialer Zeit, dessen Herrschaft auch die republikanische Staatsform nichts anhaben konnte. Dem mittelalterlichen Protokoll zufolge darf der Emir auch heute nicht direkt zu seinen Untertanen sprechen, weswegen seinem Hofstaat eine besondere Bedeutung zukommt. Die Mitglieder und ihre Funktion werden in Texten und Bildern ausführlich porträtiert. Hier wird nicht das Afrika der Hauptnachrichten präsentiert, nicht die Larmoyanz der Hunger- und Bürgerkriegskatastrophen wiedergekäut. Doch die Farbenpracht am Hofe des Emirs unterstreicht, daß für das afrikanische Problem – wenige haben viel, viele haben nichts – wohl kaum nur die ehemaligen Kolonialherren verantwortlich sind.

Jürgen Schäfers Bericht über den Umgang der Spanier mit den Opfern des Bürgerkrieges und der Franco-Herrschaft ist in Teilen etwas einseitig, wenn er den Falangisten das Alleinstellungsmerkmal des historischen Schurken zuweist. Immerhin präsentiert der Autor aber auch eine Gegenstimme, die für das Vergessenkönnen plädiert; und das nicht nur bei der Suche nach den Überresten des 1936 ermordeten Dichters Frederico Garcia Lorca. Der verkörperte alles, was im katholisch-konservativen Spanien nicht gerade gängig war (oder ist): links und homosexuell. Zudem hatte Lorca kurz vor seinem Tod die reconquista – die Rückeroberung Granadas aus der Hand der moslemischen Mauren – als „schreckliche Katastrophe“ bezeichnet.

Passend zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung erscheint Geo mit einer faszinierenden Titelgeschichte: „Eine deutsche Straße“. Die Hufelandstraße im (Ost-) Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg diente wenige Jahre vor dem Ende der DDR dem Fotografen Harf Zimmermann als Objekt seiner Diplomarbeit. Nun hat er Gebäude und Bewohner erneut aufgesucht und den alten Aufnahmen gegenübergestellt. Die Braunkohle wich dem Latte macchiato, das Viertel der Nicht-angepaßten im sozialistischen Kollektiv wurde zum Inbegriff einer neuen Schicht bildungsbürgerlicher Besserverdiener. Ohne Lamento wird das Phänomen „Gentrifizierung“ abgebildet und beschrieben, nicht bewertet. Wer genau hinsieht, dem vergeht angesichts bröckelnder Fassaden und maroder Behausungen von einst jegliche (n)ostalgische Verklärung der Vergangenheit.                        

Kontakt: Verlagsgruppe GEO im Verlag Gruner + Jahr, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg, Telefon: 040 / 37 03-0  www.geo.de

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