© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Verlorenes Paradies
Schöne Literatur: Martin Mosebach erweist sich in seinem neuen Roman „Was davor geschah“ als Meister der Erzählkunst
Harald Harzheim

Es beginnt mit einer Rückblende. Auf die Frage der Freundin nach dem Leben vor ihr beginnt der Erzähler, ein Mittdreißiger aus der Bankerszene, mit seinem Umzug nach Frankfurt am Main. Das erste Domizil, eine geheimnisvolle Wohnung im Altbauviertel, ist ihm eigentlich zu teuer. Aber vor ihr ragt ein riesiger Kastanienbaum, der das Tageslicht so transformiert, daß es – wie bei frühen Kirchenfenstern – „nur die Glasstücke erglühen läßt, aber die Kapelle nicht ausleuchtet“. Der Katholik Martin Mosebach, in klugen Essays die Wiedereinführung des lateinischen Meßrituals fordernd, versetzt seinen Helden in einen sakralen Raum. Der nächtliche Gesang einer Nachtigall vollendet die Verzauberung.

Doch der Verlust folgt unmittelbar: Die Kastanie, der Lebensbaum wird gefällt. Ihr „Stamm war offenbar gänzlich verfault gewesen“, beruhigt sich der Erzähler. Aber mit ihr schwindet der Zauber. Nach dem verlorenen Paradies folgt der Absturz in die Hölle des Banalen. Die offenbart ihren Schrecken bei den wöchentlichen Gartenpartys des Ehepaars Bernward und Rosemarie Hopsten. Finanziell ausgesorgt, mit einem Reichtum, der ohne Zutun kontinuierlich wächst, im „vornehmen“ Viertel der Mainmetropole beheimatet, veranstalten sie langweilige Poolpartys.

Ist Mosebachs Stil zu Beginn noch als „magischer Realismus“ zu bezeichnen, schwenkt er jetzt zur Satire, schildert er ironisch den „diskreten Charme der Bourgeoisie“ (L. Buñuel). Tatsächlich berichtet sein Erzähler wenig über sich selbst, verfolgt vielmehr Leben und Innenleben der Partygäste, springt von Episode zu Episode, schält deren Beziehungsnetz untereinander heraus. Der Roman verzichtet auf einen durchgreifenden Handlungsfaden, bietet keinen Spannungsbogen. Sein Verlauf ergibt sich aus den Zwischenfragen und Kommentaren, mit denen die Freundin den Erzähler unterbricht.

Dessen Lieblingsgast im Frankfurter Gruselkabinett ist Hans-Jörg, linkisch-pummeliger Sohn eines einflußreichen Ex-Politikers. Keine Situation, die dieses Papa-Söhnchen nicht verbockt, keine Falle, in die er nicht tappt; zum Beispiel wenn er auf Geschäftsreise in Kairo dem wackelnden Hintern eines Mädchens hypnotisch folgt – bis ins Kriminellenviertel der Stadt, wo ihn Straßenräuber bereits erwarten. Ein Versager im Berufsleben wie im Jagdrevier des Eros, dem einzigen Belebungselixier der Banal-Gesellschaft.

Und doch, selbst Hans-Jörgs verkrachte Existenz birgt faszinierende Rätsel: Warum sieht seine wunderschöne Frau Silvi, eine Brasilianerin, über die unzähligen Fehler derart souverän hinweg? Wieso akzeptiert sie ihn bis zur Belastungsgrenze? Er selber begreift es nicht. Solche Fragen halten nicht nur das Interesse des Lesers wach, sie geben dem Verächtlichsten auch eine Portion Würde zurück.

Mit ungewohnter Perspektive überrascht der Autor, wenn Partygast Jo-seph Salam plötzlich mit der Gastgeberin rumschmust. Dann spiegelt sich das Geschehen in den Augen des Haus-Kakadus: „Was dachte sich ein solches Tier, wenn es so etwas sah?“ Gute Frage, da die Tiere den Sündenfall ins Banale nicht mitvollzogen haben. Auch nicht jene Wespe, die sich in Hans-Jörgs Ferienhaus verirrt. Dort „stieg sie mit Gebrumm an den Fensterscheiben auf und ab. Sie sah das Licht der Sonne, sie bemerkte mit ihren Wespenaugen wohl auch die Fülle des Kastanienbaums vor dem Fenster (...) als etwas ihr Wohltuendes und Lebensförderliches.“

Da ist er plötzlich wieder, der Kastanien- beziehungsweise Lebensbaum. Das Tier sieht ihn, kann aber nicht hin. Es ist in den Räumen der Menschen gefangen, muß im Ferienhaus verenden. Manchem Protagonisten gelingt die Selbstaufwertung durch Symbiose mit einem Tier, wie dem Jockey auf seinem Prachtpferd. Mit dem scheint er „vollständig verwachsen“, wie ein Zentaur. Ohne das Tier jedoch, auf eigenen (krummen) Beinen stehend, wirkt er bloß peinlich.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze sagte über Hofmannsthals „Lord Chandos“-Brief: „Der Schriftsteller ist ein Zauberer, weil er das Tier als die einzige Population erlebt, vor der er verantwortlich ist.“ Er schreibe nicht „für Tiere“, sondern an deren Stelle. Das gilt auch für Mosebachs neuen Roman. Am Ende, wenn die Bunte-/Gala-Welt zerbröckelt, kehrt das Animalische zurück: Pferde, Ratten, Spinnen, Katzen schleichen sich diskret in die Handlungsfäden.

Aber selbst die moderne Trivial-Gesellschaft enthält Spuren vom verlorenen Paradies. Zu Beginn verliebt sich der Erzähler in die geheimnisvolle Tochter der Gastgeber, Phoebe (gr. „die Leuchtende“), die biblische Assoziationen zu Engeln oder Eva erweckt. Auf den Gartenpartys erscheint sie samt Altergenossinnen wie griechische Statuen, die dem Erzähler sogar eine originelle Apologie ihrer Handynutzung entlocken. Als Phoebe ihn endlich zu einem intimen Treffen einlädt, kommt etwas dazwischen, was hier nicht verraten wird. Nur soviel: Die Verachtung seiner Freundin gegenüber Liebe-auf-den-ersten-Blick-Geschichten – „Steckt nicht meist Wahllosigkeit oder gar Läufigkeit dahinter?“ – findet ironisch-liebevolle Widerlegung.

Ein Rezensent hat Martin Mosebach nach diesem Roman zum größten Stilisten der deutschen Gegenwartsliteratur gekürt. Mag sein. Wo Stil vom jeweiligen Inhalt nicht zu trennen ist, wäre jedoch die Frage sinnvoller, ob er zu seinem Thema die adäquate Form gefunden hat. Das ist hier eindeutig der Fall.

Martin Mosebach: Was davor geschah. Hanser Verlag, München 2010, gebunden, 329 Seiten, 21,90 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen