© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Gespenster aus der Vergangenheit
Kriegsschulden: Am 3. Oktober zahlte die Bundesrepublik letztmalig Zinsen für Auslandsanleihen des Deutschen Reiches / Dennoch weiterer Prozeß vor US-Gericht
Karl Doehring

Ein politisches, historisches und juristisches Gespenst tauchte jetzt wieder auf – der Vertrag von Versailles. Die letzten Reparationsforderungen aus dem Ersten Weltkrieg wurden am 3. Oktober erfüllt. Es ging um etwa 70 Millionen Euro, insbesondere Zinsen und Zinseszinsen für Obligationen, die zur Abgeltung von Reparationsforderungen vom Deutschen Reich im Ausland eingegangen wurden. Wie kommt es zu diesem den Staatsbürger überraschenden Ergebnis? Überraschend ist es deswegen, weil zwischen den Ursachen und seinen Folgen etwa 90 Jahre liegen, das heißt drei Generationen überdauert hatten.

Restschuld wurde bei Wiedervereinigung fällig

Der Grund für diese Zahlungen, von denen man hätte meinen können, sie seien längst durch Verjährung, Verwirkung oder Änderung der Geschäftsgrundlage erloschen, ist im Vertrag von Versailles zu finden. In dessen Artikel 231 anerkannte die Regierung Deutschlands, für alle Schäden der Kriegsgegner des Ersten Weltkrieges „verantwortlich“ zu sein. Man sah hierin die Anerkennung einer „Kriegsschuld“. Eine Schuld im Sinne des Völkerrechts konnte das nicht sein, denn im Jahre 1914 gab es kein Verbot des Angriffskrieges, so daß, selbst wenn man einmal annimmt, das Deutsche Reich habe den Krieg verursacht, ein Völkerrechtsdelikt nicht vorlag.

Im übrigen ist bis heute unter Historikern umstritten, wer und was für den Kriegsbeginn kausal war. Wenn es also eine Rechtsgrundlage für die Behauptung einer Kriegsschuld nicht gab, hätte es auch keinen Rechtsanspruch für Ansprüche auf Wiedergutmachung gegeben. Aber die Forderungen der Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg waren nahezu unerträglich. Diese logische Lücke sollte dadurch geschlossen werden, daß das Deutsche Reich eine Schuld „anerkenne“, was dann auch geschah. Unter dieser Zumutung, ultimativ durchgesetzt, litt die gesamte Entwicklung späterer Jahre. Sie war einer der Gründe, warum die deutsche Wirtschaft darniederlag, die Verfassung von Weimar sich zur Zerreißprobe entwickelte und Hitler den „Schandvertrag“ von Versailles zu einem der Hauptargumente seiner machtergreifenden Propaganda benutzten konnte. Denn die angebliche „Kriegsschuld“ wurde von vielen als Demütigung des Deutschen Reiches angesehen.

Zur endgültigen Aufarbeitung der so entstandenen Reparationsfrage kam es nie, denn das Deutsche Reich konnte die verlangten Zahlungen schlechthin nicht aufbringen, so daß durch das Dawes-Abkommen von 1924, den Young-Plan von 1929 und das Hoover-Moratorium von 1931 Milderung der Zahlungen und Aufschub von den Alliierten konzediert wurden. Jedoch wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in den Restitutionsforderungen der Siegermächte diese Schäden aus dem Ersten Weltkrieg einbezogen. Nun konnte eine „Kriegsschuld“ am Zweiten Weltkrieg angenommen werden, denn der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 hatte den Angriffskrieg zu einem völkerrechtlichen Delikt erklärt.

Die Einbeziehung von Schulden aus und nach dem Ersten Weltkrieg war keine Selbstverständlichkeit. Aber die deutsche Bundesregierung erhob dagegen keine endgültigen Einwendungen, und das nicht aus rechtlichen, sondern politischen Gründen. In dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 wurde vereinbart, daß eine Restschuld spätestens dann zu begleichen sei, wenn es zu einer Wiedervereinigung Deutschlands käme. 20 Jahre nach einem solchen Ereignis sollte die letzte Rate der Vorkriegsschulden bezahlt werden. Das ist nun der Fall. Eine genaue Aufstellung über die ganz erheblichen Summen, die aufgrund der Vereinbarung im Londoner Schuldenabkommen von 1953 von der Bundesrepublik Deutschland gezahlt wurden, gibt Bernd Fehn in „Jahrhundertschuld und Jahrhundertsühne“, (Doehring/Fehn/Hockerts, Olzog-Verlag 2001).

Prozeß vor internationaler Gerichtsbarkeit zulässig

Wenn nun, wie aus Florida berichtet wurde, dennoch in den USA von Privaten und Firmen unter Berufung auf diese alten Weltkriegs-Obligationen aus den Jahren 1924 bis 1931 hohe Millionenforderungen erhoben werden sollten, wird die Rechtslage wohl verkannt. Das Londoner Schuldenabkommen ist ein Vertrag unter Staaten, der alle früheren Forderungen aus Kriegszuständen bereinigen sollte – und zwar im abschließenden Sinne. Eine Klage gegen Deutschland würde dem Grundsatz der Staatenimmunität widersprechen. Es könnte nicht behauptet werden, daß seinerzeit die Obligationen iure gestionis (geschäftliche Schulden) eingegangen worden seien, denn spätestens im Londoner Schuldenabkommen handelte die Bundesrepublik Deutschland in hoheitlicher Funktion – also iure imperii. Ein Streit hierüber könnte nur vor internationaler Gerichtsbarkeit zulässig sein. Die Regelung über Verpflichtungen gegenüber fremden Staatsangehörigen wurde auch in anderen internationalen Verträgen von den Staaten übernommen, wie etwa im Friedensvertrag von Italien von 1946.

Interessant ist es festzustellen, wie geschichtliche Vorgänge in ihrer Grundstruktur sich doch oftmals wiederholen. Die Kriegsschuldforderungen gegenüber dem Deutschen Reich im Jahre 1919 – und damit die ungeheure Last zur Wiedergutmachung – wurden von deutscher Seite anerkannt und diese Anerkennung bezog sich dann auch auf die Hinnahme der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze. Ohne diese deutsche Anerkennung wäre diese Grenze rechtswidrig gezogen worden, denn trotz deutschen Angriffskrieges hätten die Siegermächte bei Übertragung von Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien sich auch als angegriffene Kriegspartei einer Gegenaggression schuldig gemacht, also einer sinngemäßen Verletzung der Stimson-Doktrin.

Deshalb gerade haben die Siegermächte durch den Abschluß des Zwei-plus-Vier-Vertrages die Anerkennung der Abtretung dieses großen Teils deutschen Gebietes erreichen wollen. Die Bundesrepublik hat diese Anerkennung 1990 akzeptiert, weil sie so die Souveränität Gesamtdeutschlands meinte erreichen zu können. Rechtlich war sie dazu nicht verpflichtet. Aber ohne Anerkennung hätte über diese Vereinnahmung von nahezu einem Drittel des deutschen Staatsgebietes ein Vorwurf geschwebt.

Daß heute noch Ansprüche auf Reparationen gestellt werden könnten, erstaunt. Man sieht, wie Anerkennungen als unrechtheilend aus politischen Gründen und nicht aus Rechtsgründen ausgesprochen werden.

 

Prof. Dr. Karl Doehring war Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

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