© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Auf einsamem Posten
Linke Denkanstöße beeinflußten die deutschlandpolitische Debatte der 1980er Jahre
Jakob Apfelböck

In den elf Monaten zwischen Maueröffnung und Wiedervereinigung wurde nicht allein die mitteleuropäische Nachkriegsordnung im Eiltempo überwunden. Der Einstellungswandel der bundesrepublikanischen Eliten war ebenso rasant und eindrucksvoll. Über lange Jahre hatte für sie eine unverbrüchliche Gewißheit gegolten: Die deutsche Teilung ist für die absehbare Zukunft fest zementiert. Ihre Überwindung auf die Tagesordnung der Politik zu setzen, wäre aber nicht nur zwecklos, sondern auch entbehrlich. Schließlich könne man auf die staatliche Einheit gut und gerne verzichten, wenn nur den Menschen in der DDR allmählich mehr Freiheit eingeräumt würde. Und nicht zuletzt müsse man auch den Befürchtungen der europäischen Nachbarn vor der Dominanz eines geeinten Deutschland Rechnung tragen und eine Zweistaatlichkeit, die allerdings weniger trennenden Charakter haben sollte, im Interesse des Friedens akzeptieren.

In der offiziellen Bundesrepublik war die deutsche Frage in den Jahren vor der Maueröffnung nur noch in vielbelächelten Feiertagsreden präsent gewesen. Wer ihr eine darüber hinausgehende Relevanz beimaß oder gar eine operative Politik zu ihrer Lösung forderte, sah sich an den Rand gedrängt, im günstigsten Fall als sentimentaler Ewiggestriger oder Utopist, bei Bedarf und nicht immer zu Unrecht auch als Rechtsextremist. Dabei war der Anfangsverdacht, Protagonisten der deutschen Einheit könnten eigentlich nur aus einer erfolgreich stigmatisierten politischen Ecke kommen, von Anfang an unbegründet.

Vereinigtes Deutschland als Puffer zwischen Ost und West

Dies gilt ganz besonders für jene, die sich in der um die Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren aufflackernden deutschlandpolitischen Diskussion zu Wort meldeten und ab und zu sogar über Konventikel hinaus Gehör fanden. Diese Diskussion klinkte sich ein in ein zentrales Thema, das die Linke in jener Zeit bewegte und zum Aufhänger einer Kampagne mit millionenfacher Beteiligung wurde. Nach einem Jahrzehnt der Entspannungspolitik mit der KSZE-Schlußakte von Helsinki als Höhepunkt schienen die Beziehungen zwischen Ost und West wieder von Konfrontation gekennzeichnet. Die Sowjetunion hatte, so die Beurteilung der Nato, das diplomatische Tauwetter zum Ausbau ihres Militärpotentials genutzt und dabei in einem Bereich für ein strategisches Ungleichgewicht zu ihren Gunsten gesorgt, der bislang durch keinen Rüstungsbegrenzungsvertrag geregelt war. Das westliche Bündnis reagierte darauf mit dem Nachrüstungs-Doppelbeschluß, der die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Europa androhte, falls der Osten nicht einlenkte. Mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und dem westlichen Boykott der Olympischen Spiele von Moskau schien sich die Lage weiter zuzuspitzen. In den USA drängte Ronald Reagan an die Macht, der die ostliche Supermacht als „Reich des Bösen“ ansah und entschlossen schien, ihr überall in der Welt entgegenzutreten und sie durch einen neuen Rüstungswettlauf in die Knie zu zwingen.

Das Bemühen, dieser Entwicklung mehr als nur eine gesinnungsethische Empörung und eine privatistische Verweigerungshaltung entgegenzusetzen, trieb einige wenige Linke dazu, die Lösung der deutschen Frage als ein Hilfsmittel zur Überwindung von Ost-West-Konfrontation und Kriegsgefahr ins Spiel zu bringen. Gelänge es, die beiden deutschen Staaten aus ihren Bündnissen herauszulösen und in einer nicht notgedrungen in klassischem Sinne nationalstaatlich zu organisierenden Einheit zu neutralisieren, so wäre ein Puffer zwischen die beiden Blöcke gelegt und eine militärische Eskalation in Mitteleuropa weniger wahrscheinlich.

Tatsächlich brachte es Bewegung in eine erstarrte Debatte und verlockte überdies einige Liberale und Konservative dazu, seit den fünfziger Jahren verschüttete Traditionen eines „dritten Weges“ zwischen Ost und West wieder aufleben zu lassen. In der Friedensbewegung, auf die die linke Deutschlanddiskussion in erster Linie zielte, gelang es jedoch nicht, Fuß zu fassen. Die in ihr dank ihrer organisatorischen und finanziellen Ressourcen überaus einflußreiche DKP wachte mit Argusaugen darüber, daß niemand den Interessen der SED ins Gehege käme. Für den gegen die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt opponierenden Flügel der SPD und das Gros der neu auf den Plan getretenen Grünen galt die deutsche Frage als ein genuines Thema der extremen Rechten, das Linke nicht aufgreifen könnten. Wer dies in ihren Reihen dennoch wagte, geriet in Verdacht und unter Rechtfertigungszwang.

Die Selbstverständlichkeit, mit der die damalige Linke ihr Desinteresse an der deutschen Frage und ihre prononciert antinationale Haltung zum Ausdruck brachte, ließ sich jedoch auch als Unwissenheit um die eigenen Traditionen oder gar als ein bewußter Bruch mit denselben interpretieren. In ihrem 1981 erschienenen und sogleich Furore machenden Buch „Die Linke und die nationale Frage“ konfrontierten Peter Brandt  (siehe Gespräch mit ihm auf Seite 3) und Herbert Ammon das politische Milieu, dem sie sich eigentlich zugehörig fühlten, mit Facetten seiner jüngeren Ideengeschichte, von denen es nichts mehr wissen wollte. Über die bloße Zusammenstellung von Dokumenten hinaus bezogen sie aber auch selbst Position.

Der aktuellen Vereinnahmung der Nation durch die bürgerliche Rechte, die sie traditionell mit eigenen Besitz- und Machtinteressen identifiziere, ließe sich ein genuin linker und somit „emanzipatorischer“ Ansatz entgegenhalten, der Demokratie und Nation sowie soziale und nationale Frage miteinander verbinde. Den Anspruch, damit einen ideengeschichtlichen Geistesblitz formuliert zu haben, erhoben Brandt und Ammon nicht. Genau besehen, hatten sie auch nur einen so dezenten wie korrekten Hinweis darauf gegeben, daß die – allerdings schon eine Weile zurückliegenden – Ursprünge der deutschen Linken eben in einer Verknüpfung der Forderungen nach nationaler Einheit, radikaler Demokratie sowie politischen und sozialen Menschenrechten zu sehen sind.

So fand sich von Brandt und Ammon auch im 1982 vom sich als „linksnational“ verstehenden Filmemacher Wolfgang Venohr herausgegebenen Sammelband „Die deutsche Einheit kommt bestimmt“ ein Beitrag zum Thema „Patriotismus von links“. Ein Buch, das eine rege Debatte über eine notwendige aktive Wiedervereinigungspolitik auslöste.

Zur Ideengeschichte der Linken gehört jedoch auch, daß ihr irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg das Subjekt, in dessen Dienst sie sich stellt oder als dessen Avantgarde sie sich begreift, abhanden kommt. In Deutschland ist diese Abkehr vom „Volk“ wie auch vom „Proletariat“ schon lange vor Goldhagen und Aly besonders eklatant, da die Massen durch ihre Kollaboration oder gar Mittäterschaft im NS-Unrechtsstaat ihre Unschuld verloren haben. Die Unbefangenheit der Antifaschisten der Stunde Null, die auch und nicht zuletzt die nichtbürgerlichen Schichten des deutschen Volkes als Entrechtete eines verbrecherischen Regimes sahen, hat einer militanten Ablehnung kollektiver Identität im allgemeinen und der deutschen im speziellen Platz gemacht. Mit der DDR ist auch die weltfremde Vorstellung einer aus deutschem Kulturerbe schöpfenden sozialistischen Nation verschwunden, nicht wenige Linke sehen sie neben autoritären Denkmustern als Grund für rechte Präferenzen so vieler Wähler in den neuen Bundesländern. Eine Linke, die sich auch auf die Nation bezieht und die Deutschen von heute nicht länger in einer abstammungsbedingten Komplizenschaft mit den Tätern von einst sieht, bleibt vorerst graue Theorie.

Foto: Deutschlandfahne auf Friedensdemonstration in Fulda 1984 (JF-Montage): Die damalige Linke brachte ihre prononciert antinationale Haltung aus Unwissenheit um die eigenen Traditionen zum Ausdruck

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen