© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Vaterlandslose Gesellen
Unberührt von Mauer und Todesschüssen: Die westliche Literatur der Nachkriegszeit zeigte sich desinteressiert an der Teilung Deutschlands
Jörg Bernhard Bilke

Die politische Klasse in der alten Bundesrepublik Deutschland 1949/89 hat sich, trotz gegenteiliger Bekundungen und trotz aller innerdeutschen Verträge mit der DDR-Regierung, kaum jemals für das Schicksal ihrer eingeschlossenen Landsleute interessiert.

Neuestes Beispiel dieses verqueren, aber noch immer virulenten Denkens ist die Rede des 1954 in Bonn geborenen Bundesinnenministers Thomas de Maizière (CDU), die er am 31. August im Kronprinzenpalais Unter den Linden zum 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Einigungsvertrags gehalten hat. Der verräterische Satz, der die Mitteldeutschen ausgrenzt aus deutscher Geschichte und Gegenwart, lautet: „Heute wissen wir, Deutschland hätte von der DDR vielleicht nicht den Hymnen-Text, aber ruhig ein bißchen mehr übernehmen können als nur den grünen Pfeil und das Ampelmännchen.“

Diese Mentalität, sich völlig unberührt zu zeigen vom Schicksal der 17 Millionen Mitteldeutschen, die beim Kriegsende 1945 zufällig in der falschen Gegend lebten und deshalb in weit stärkerem Umfang als die im „Wirtschaftswunderland“ lebenden Westdeutschen die Folgen des Zweiten Weltkriegs zu tragen hatten, ist auch das untrügliche Kennzeichen der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig die „nationale Frage“, die unerträgliche Teilung Deutschlands, überhaupt wahrgenommen wurde. Die Autoren, die sich diesem Thema zuwandten, kann man an einer Hand abzählen: neben Kurt Morawietz und seiner Lyrik-anthologie „Deutsche Teilung“ (1966) waren das lediglich Gerhard Zwerenz, Uwe Johnson mit seinem aufsehenerregenden Roman „Zwei Ansichten“ (1965) über die Flucht einer Ost-Berliner Krankenschwester, Dieter Lattmann mit seinem Roman „Die Brüder“ (1985), Theodor Schübel und Arno Surminski mit seinem Roman „Polninken oder Eine deutsche Liebe“ (1984).

Allen diesen Autoren gemeinsam ist, daß sie irgendwann nach 1945 in Mitteldeutschland gelebt oder ihre DDR-Erfahrungen an der innerdeutschen Grenze gewonnen haben wie Theodor Schübel mit seinem Roman „Damals im August“ (1983). Der einzige Autor, der öffentlich eingestand, an der deutschen Teilung zu leiden, obwohl er über keinerlei biographische und geographische Verbindungen zu Mitteldeutschland verfügte, war der am fernen Bodensee lebende Martin Walser. In seiner Rede in den Münchner Kammerspielen im Oktober 1988 bekannte er, daß die mitteldeutschen Kulturlandschaften Thüringen und Sachsen auch zu seinem Selbstverständnis als Deutscher gehörten.

Aber schlimmer noch als das Desinteresse an der deutschen Frage war der offene Kampf gegen die Wiedervereinigung und damit gegen den Freiheitswillen der mitteldeutschen Bevölkerung, wie ihn Günter Grass führte. Hatte er noch am 14. August 1961 in seinem „Offenen Brief an Anna Seghers“ gegen den Mauerbau in Berlin protestiert und 1966 in seinem Theaterstück „Die Plebejer proben den Aufstand“ den 17. Juni 1953 favorisiert, so trat er 1990 in seinen „Reden eines vaterlandslosen Gesellen“ – noch nach den Wahlen vom 18. März zur nunmehr demokratischen Volkskammer, die ihn Lügen straften – gegen den Einheitsstaat und für eine Konföderation ein, wobei der kollabierende SED-Staat freilich vom reichen Westdeutschland hätte finanziert werden müssen. Sein umwerfendes Argument: Die „Erfahrung Auschwitz“ schließe die deutsche Einheit aus! In seinem Fontane-Roman „Ein weites Feld“ (1995) erklärte er schließlich den durch und durch gescheiterten Staat, der nur noch vom Ministerium für Staatssicherheit beherrscht wurde, zur „kommoden Diktatur“.

Die DDR-Literatur dagegen war, so paradox das klingt, von dieser unstillbaren Sehnsucht nach Freiheit erfüllt, die nach dem Mauerbau 1961, als „Republikflucht“ nahezu unmöglich geworden war, immer stärker wurde und schließlich in den Leipziger Demonstrationen von 1989 gipfelte. Der Lyriker Reiner Kunze beispielsweise veröffentlichte 1963 sein Gedicht vom „Vogel Schmerz“, worin er das Land beklagte, das „auseinanderbricht“. Wenn man das ideologische Beiwerk abtrennt und die Texte gegen den Strich liest, findet man diesen Aufschrei nach Freiheit 1963 auch bei staatstreuen Autorinnen wie Brigitte Reimann und Christa Wolf. In ihren beiden Romanen „Die Geschwister“ und „Der geteilte Himmel“ wurden Teilung Deutschlands, Mauerbau und „Republikflucht“, die seit 1957 durch Strafgesetze kriminalisiert war und mit Zuchthaus geahndet wurde, immerhin diskutiert. Im ersten Roman wird die „Republikflucht“ versucht, aber verhindert, im zweiten vollzogen.

Wie ein roter Faden zieht sich der Freiheitsdrang der Unterdrückten durch die DDR-Literatur bis 1989: In dem Gedicht des mit Haftbefehl gesuchten Bernd Jentzsch, „Ein Wiesenstück“ (über die innerdeutsche Grenze), im Prosatext „Schießbefehl“ des ausgebürgerten Reiner Kunze, in Volker Brauns „Unvollendeter Geschichte“, die nach der Erstveröffentlichung 1975 verboten wurde, in den Erzählungen Thomas Braschs „Fliegen im Gesicht“ und Erik Neutschs „Zwei leere Stühle“. Unter diesem Aspekt, wie aufklärerische DDR-Literatur dem Freiheitskampf gegen die SED-Diktatur vorgearbeitet hat, ist der Mauerfall noch nie beschrieben worden.

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