© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Sein Zorn kann jeden treffen
Amerika, deine Intellektuellen: Der linksliberale Schriftsteller Gore Vidal liest seinem Land die Leviten
Martin Lichtmesz

Seit nunmehr über sechs Jahrzehnten zählt der US-amerikanische Romancier, Essayist, Ex-Politiker und gelegentliche Schauspieler Gore Vidal zu den giftigsten Stacheln im Fleische von Onkel Sam. Eine Rolle, die der 1925 in West Point, New York, Geborene stets mit Genuß und Verve ausfüllte: Bereits 1948 landete er mit seinem Roman „The City and the Pillar“ (dt. Geschlossener Kreis), einem offenherzigen Bekenntnis zu seiner Homosexualität, einen Skandal, der ihn fortan in den Ruch des sexbesessenen Tabubrechers brachte.

Vidal, das „schwarze Schaf“ einer altehrwürdigen demokratischen Patrizierfamilie mit dem Habitus eines Aristokraten und Dandys, gilt zwar als Mann der Linken, paßt aber kaum in die üblichen politischen Schubladen. Es gibt in den USA wohl nichts und niemanden, mit dem er sich nicht irgendwann angelegt hätte. Demokraten und Republikaner sind für ihn nur zwei austauschbare Seiten ein und derselben korrupten Oligarchie, die ihr Staatsvolk verachtet und ausbeutet, nur auf persönlichen Profit aus ist und zu diesem Zweck die Welt mit nie endenden imperialistischen Kriegen überzieht.

Die Zukunft der USA sieht Vidal auch nach Ablösung der von ihm scharf kritisierten Bush-Regierung düster: Das Land wird ökonomisch und gesellschaftlich kollabieren und sich allmählich in eine Diktatur und einen Polizeistaat verwandeln. Aufgewachsen im Amerika Franklin Delano Roosevelts, lernte Vidal über seine Familienverbindungen schon früh das Establishment der Reichen, Schönen und Mächtigen von innen her kennen, in der Politik, wo er zeitweilig mit John F. Kennedy zusammenarbeitete, ebenso wie in Hollywood, wo er in den fünfziger und sechziger Jahren als Drehbuchautor tätig war. Auf sein Konto geht angeblich der homosexuelle Subtext von „Ben Hur“ (1959) sowie das Buch zu dem berüchtigten Kunstfilmporno „Caligula“ (1979), von dem er sich allerdings später distanzierte. Sein Insiderwissen lieferte ihm nicht nur Stoff für seine epischen historischen Romane, die mit Vorliebe in den Zentren der Macht angesiedelt sind, es brachte ihn auch in den Ruf einer bissigen, gefürchteten Klatschtante. Legendär sind seine Fehden mit Truman Capote, Norman Mailer oder seinem Lieblingsfeind William F. Buckley jr., dem Doyen des amerikanischen Konservativismus.

Zu den kontroversesten Kapiteln der Vidal-Vita gehört sein teilweises Eintreten für den „Oklahoma-Bomber“ Timothy McVeigh, der im April 1995 bei einem Bombenanschlag 168 Menschen tötete, und dies als Gegenschlag gegen eine zunehmend repressive US-Regierung ausgab.

Am 3. Oktober feiert das schillernde, ungebrochen scharfzüngige Enfant terrible der US-Nation seinen 85. Geburtstag.

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