© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Die neuen Konservativen
Karl Heinzen

Als die Grünen 1983 das erste Mal in den Deutschen Bundestag einzogen, galten sie als ein Sammelsurium von exzentrischen Sektierern mit problematischen Biographien und dubiosen Absichten. Aus diesem Nischendasein wurden sie dank sozialdemokratischer Hilfe rasch erlöst. Bereits 1985 wurde mit Joschka Fischer ein Repräsentant der Bewegung zum Landesminister vereidigt. Der drohenden Identitätskrise, daß eine Partei von eingeschworenen Nein-Sagern damit zum Bestandteil des Staatsapparates mutierte, versuchte er durch die symbolische Unbotmäßigkeit, während der Zeremonie Turnschuhe zu tragen, zu begegnen. 1998 waren die Grünen im Zentrum der gesamtstaatlichen Macht angekommen. Der gleiche Joschka Fischer wurde Außenminister und bahnte der Bundesrepublik unter dem Banner von Frieden und Menschenrechten den Weg in die Beteiligung an den ersten Kriegen ihrer Geschichte, zunächst im Kosovo und schließlich auch in Afghanistan. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – gilt er Umfragen zufolge als der beliebteste Amtsinhaber der zurückliegenden sechs Jahrzehnte.

Ein Ventil für jene, die an liebgewonnenen Prinzipien und Sprachregelungen festhalten wollen.

Der Abschied Fischers aus der profanen Politik hat den Grünen gleichwohl nicht geschadet, sie fuhren vielmehr bei der Bundestagswahl 2009 ein Rekordergebnis ein. Demoskopen sehen sie derzeit bei 24 Prozent, gleichauf mit der SPD, die dem Höhenflug ihres Juniorpartners vergangener Tage nur mit dem väterlichen Rat zu begegnen weiß, keinen eigenen Kanzlerkandidaten aufzustellen.

Das zunehmende Unbehagen über die Abgründe, die sich auf so vielen Politikfeldern auftun, findet in den Grünen ein Ventil für all jene, die auch in krisenhaften Zeiten an liebgewonnenen Prinzipien und Sprachregelungen festhalten wollen, die immer mehr Bürger und zunehmend auch die anderen Parteien zur Disposition zu stellen scheinen. Diese neuen Konservativen betreiben moralische Besitzstandswahrung. Sie sind wohlhabend genug, um etwas für die Beruhigung ihres Gewissens auf Gebieten wie etwa Integration, Gleichberechtigung und Umweltschutz abgeben zu können. Die Mehrheit der Bevölkerung kann sich diesen Luxus aber nicht mehr leisten. Einzig in ihrer elitären Selbstgewißheit, auf die niederen Bedürfnisse der Massen herabschauen zu dürfen, liegen die Grünen heute noch im Trend der Zeit.

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