© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Das Verlorene wiederfinden
Auftakt zu einer JF-Serie: In ganz Deutschland werden historische Bauwerke rekonstruiert
Claus-M. Wolfschlag

Die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs hinterließen in Deutschland weithin zertrümmerte Stadtlandschaften. Über Jahrhunderte gewachsene romantische Altstadtstraßenzüge wurden im Feuersturm verbrannt, bedeutende Baudenkmale in Ruinen verwandelt. Den Todesstoß für das historische Stadtbild gab aber oft erst der Wiederaufbau der Nachkriegszeit. War man in den frühen 1950er Jahren noch um einen Aufbau im Heimatschutzstil und im Maßstab der alten Stadt bemüht, so änderte sich das mit zunehmender Zeit.

Im Westen fühlten Bauhaus-Adepten ihre Stunde für eine radikale Tabula rasa gekommen, so daß der modernistische Zeitgeist ganze Stadtgefüge zugunsten von Zeilenbau-Siedlungen, Hochhäusern und Automagistralen zu zerreißen begann. Das alte Streben nach „Licht“ und „Luft“ wurde nun gar mit der Schuld­ideologie verknüpft, nach der eine Wiederherstellung kriegszerstörter Bauwerke eine unzulässige Revision der Ergebnisse des Krieges darstellen würde. Zugleich wurde im Zuge von Glättungsmaßnahmen massenhaft Fassadenschmuck von Gründerzeithäusern abgeschlagen. Das bis dahin unbehelligte deutsche Dorf wurde zudem auch noch dem Konzept der modernisierten Welt unterworfen. Wo einst Fachwerk regierte, kamen nun die Händler industriell gefertigter Baustoffe zum Zug, von Glasbausteinen über Kachelfassaden bis zum Verbundsteinpflaster.

In der DDR hingegen kam es zu einigen ideologisch motivierten Abrissen von Schlössern und Kirchen, ansonsten ließ man die Altbausubstanz einfach langsam verkommen. Ein Glücksfall für die östlichen Bundesländer war die Wiedervereinigung also insofern, als noch rechtzeitig vor dem völligen Verfall vieler Altstädte mit nötigen Sanierungsmaßnahmen begonnen werden konnte.

Seit den 1990er Jahren kam es zudem zur Entstehung der neuesten architektonischen Rekonstruktionsphase, der dritten Phase nach den Folgen des Bombenkrieges. Auf den großen Wiederaufbau unmittelbar nach dem Krieg, der zahlreiche Baudenkmale – vor allem Kirchen – wiederhergestellt hatte, war in den achtziger Jahren eine zweite kleine Welle von Rekonstruktionen gefolgt, auch im Gefolge neuer, postmoderner Ideen. Man kann dazu den Marktplatz in Hildesheim mit dem berühmten Knochenhaueramtshaus zählen, die Fachwerk-Ostzeile auf dem Frankfurter Römerberg oder das Leibnizhaus in Hannover.

Junge Menschen sind der Baumoderne überdrüssig

Seit mehr als zehn Jahren nun befinden wir uns in der dritten großen Rekonstruktionswelle. Sie ist in einer Phase entstanden, in der einerseits die langsam abtretenden Alten letzte Anstrengungen unternehmen, die Bilder ihrer Kindheit auch für künftige Generationen wieder erlebbar zu machen, in der andererseits junge Menschen, der Baumoderne überdrüssig, sich verstärkt für die Geschichte ihrer Städte und traditionelle Architektur begeistern. Da letzte Kriegsruinen, wie etwa das Wiesbadener Jagdschloß Platte, mittlerweile mindestens teilwiederhergestellt wurden, geht es nun um die Wiedergewinnung unserer Stadt- und Dorfbilder durch Rekonstruktion und um das nationale Wiederfinden des Verlorenen. Da sich aber die modernen Architekten bislang selbstgefällig dem Wunsch nach Heilung der Stadtbilder und nach traditionell orientierter Architektur verweigern, bleibt den Bürgern nur der Schritt zur Aktivierung des historischen Gedächtnisses, zur Wiederherstellung von vor Jahrzehnten verlorenen Bildern, die dann als Traditionsinseln und Ausgangspunkte für eine andere Stadtplanung dienen sollen.

Bekannte bereits realisierte Projekte dieser aktuellen Bewegung sind der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden, um die herum das Neumarkt-Areal mit teils rekonstruierten Barockfassaden wiederersteht, und das wiedererrichtete Stadtschloß in Braunschweig, allerdings mit einer heftig umstrittenen Shopping-Mall hinter der Fassade.

Die momentan in Deutschland am häufigsten diskutierten Rekonstruktionsprojekte verlorener Bauwerke befinden sich in Berlin und Potsdam. Zwei Stadtschlösser, im Weltkrieg schwer beschädigt und dann von den Einheitssozialisten abgerissen, sollen dort in den nächsten Jahren wiedererstehen. Die Schlösser – Berlin allerdings weit stärker als Potsdam – sind stark politisch umkämpft. Gerade jene Linke, die einst den Abriß der Schlösserruinen zu verantworten hatte, obwohl man die Häuser durchaus wieder aufbauen hätte können, sträubt sich vehement. Sie empfindet die Rekonstruktionen offenbar teils als Demütigung, als Revision einstiger Entscheidungen, deren negative Auswirkungen man glaubt, trotzig leugnen zu müssen. Irrationale Ressentiments spielen also eine nicht zu unterschätzende Rolle bei jener Schlösser-Angst, zu der man aber auch keine wirkliche Alternative anzubieten hat.

Berliner Schloß-Aufbau sorgt für Diskussionen

Zudem bieten beide Schlösser Angriffspunkte aufgrund ihres Kompromißcharakters. Das Knobelsdorff-Schloß in Potsdam wird von dem Dresdner Architekturbüro Peter Kulka bis 2013 als neuer Sitz des brandenburgischen Landtags errichtet. Prominente hatten sich frühzeitig dafür eingesetzt. Fernsehmoderator Günther Jauch hatte für die Errichtung des bereits hergestellten Fortuna-Portals gespendet, der Software-Milliardär Hasso Plattner hatte 20 Millionen Euro für die Rekonstruktion der Fassaden zugesichert. Doch wie Linke und Modernisten unter den Architekten sich generell an der Rekonstruktion der barocken Fassaden stören, so empfinden die Rekonstruktionsbefürworter des Potsdamer Vereins „Mitteschön“ den Kulka-Entwurf als problematisch – schließlich sollen die Fassaden vereinfacht werden, sollen außer dem Treppenhaus keine Innenräume rekonstruiert werden und sollen die Proportionen des Innenhofes für Abgeordnetenbüros verengt werden.

In Berlin hingegen entwickelt sich das Ringen um das als „Humboldt-Forum“ neu zu errichtende Stadtschloß noch zäher. Der italienische Architekt Franco Stella sollte den Bau ab 2013/14 errichten, doch bis heute sind Baubeginn und Finanzen ungeklärt. Ebenso offen bleibt, welche Innenhoffassaden rekonstruiert werden und ob auch die stadtbildprägende Kuppel wiederkommt. Der „Förderverein Berliner Schloß“ möchte 80 Millionen Euro für die Schlüterschen Barockfassaden sammeln, doch bedingt durch die unsichere Planungssituation ist der Spendenfluß bislang noch zu gering.

Abgesehen von diesen weitgehend öffentlich finanzierten Großprojekten wartet die derzeitige Rekonstruktionsbewegung aber auch mit vielen kleinen, meist privat finanzierten Bauvorhaben auf, und zwar quer durch die meisten deutschen Bundesländer, in Städten wie auf dem Land. Weniger politisch aufgeladen und von den Medien beachtet, finden sich auch hier häufig wiederkehrende Konfliktlinien: Auf der einen Seite rekonstruktionswillige Initiativen aus einer Bürgerschaft, die den Projekten generell freundlich gegenübersteht. Auf der anderen Seite eine mehr oder minder desinteressierte Stadtpolitik. Im negativsten Fall versuchen modernistische Architekten im Verbund mit dogmatischen Denkmalschützern, die Projekte zu torpedieren. Die kleinen bürgerlichen Projekte haben stets mit Finanznot zu kämpfen, so daß Baufortschritte oft recht lange brauchen und dann womöglich nur schrittweise durchgeführt werden können.

Die in der nächsten JF-Ausgabe beginnende Serie wird einige dieser Rekonstruktionsprojekte jenseits des bundesweit bekannten Stadtschloß-Streits vorstellen.

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